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STEILPASS Inland: Wir haben 24 Türen

Stefan Hermanns wundert sich, dass Fans nicht mehr singen

Vor kurzem auf dem Weg zu Hertha, die S-Bahn ist rappelvoll, am Bahnhof Olympiastadion öffnen sich die Türen, und es passiert: nichts. Ich krame in meinen Erinnerungen. War das früher nicht mal so, dass die Fans den Bahnsteig stürmen und als Erstes eine akustische Duftmarke setzen? Hurra, hurra, die Posemuckler, die sind da! Hier und heute singt niemand.

Mir kommt ein Juniabend 1995 in den Sinn. Borussia Mönchengladbach hat gerade das Pokalfinale gewonnen, die siegestrunkenen Fans strömen zur U-Bahn, vor dem Bahnhof stauen sich die Massen. Eine Durchsage der BVG: „Bitte nutzen Sie die ganze Breite des Bahnsteigs. Unsere Züge haben 24 Türen.“ Plötzlich fängt jemand – zur Melodie von „Es gibt nur ein’ Rudi Völler“ – an zu singen: „Wir haben 24 Türen, 24 Türen ...“ Und der ganze Platz stimmt ein. Völlig gaga eigentlich und doch erhebend. Ein paar Jahre später, irgendein Gladbach-Spiel, und wieder dieses Lied: Wir haben 24 Türen. Da vorne singt jemand mit, da hinten ein anderer, dort ein Dritter. Ein dünner Chor nur, aber man weiß: Die waren auch dabei, damals im Juni 95, vor dem U-Bahnhof Olympiastadion.

Geht es nicht genau darum beim Fan-Sein: sich den eigenen Leuten zu erkennen zu geben und sich von den anderen abzugrenzen? Wir gehören zusammen, weil wir dieselben Lieder singen. Heute wird nur noch gesungen, wenn die Ultras es wollen. Und je komplizierter der Text, desto besser – damit die auf den teuren Plätzen gar nicht erst einstimmen können. Schon komisch, wenn man meint, sich von den eigenen Leuten abgrenzen zu müssen. Und jetzt alle: Wir haben 24 Türen, 24 Tüüüüren ...

Stefan Hermanns schreibt an dieser Stelle über deutschen Fußball. Markus Hesselmann beschäftigt sich mit dem Ausland, Jens Kirschneck mit Frauenfußball.

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