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Thomas Häßler spielte in seiner Profikarriere für sieben Vereine - aber nie in Berlin.

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Tagesspiegel-Wahl: Häßler ist bester offensiver Mittelfeldspieler: Weltmeister aus Wedding

Thomas Häßler ist von unserer Experten-Jury zum stärksten offensiven Mittelfeldspieler der Bundesliga-Geschichte gewählt worden. In Berlin hat man sein Können lange verkannt.

Im Herbst seiner Karriere wäre Thomas Häßler beinahe doch zurückgekommen. Nach Hause, in die Stadt, der er seinen Akzent verdankt und den Spitznamen, denn welcher Berliner hätte den kleinen Häßler schon „Icke“ genannt?

Im Frühjahr 1998 ist Häßler mit dem Karlsruher SC gerade aus der Bundesliga abgestiegen und auf der Suche nach einem neuen Verein. Es ist die Zeit, in der Hertha BSC sich ein lokales Profil geben will, mit Spielern aus Berlin oder dem Osten Deutschlands. Für die Position im zentralen Mittelfeld hat Manager Dieter Hoeneß Häßler oder den ehemaligen Hallenser Dariusz Wosz ausgeguckt. Hoeneß fährt also nach Karlsruhe und führt ein erstes Gespräch mit dem Ehepaar Häßler. Hoeneß erinnert sich an einen „völlig paralysierten Thomas, der war zu keinem klaren Gedanken fähig“. Häßler sitzt stumm in der Küche, und seine Frau stellt erst einmal klar, sie werde auf keinen Fall nach Berlin gehen, egal wie der Thomas sich entscheide.

Dieter Hoeneß beendet das Gespräch und holt Darius Wosz.

Die Geschichte des Fußballspielers Thomas Häßler ist auch eine Geschichte der verpassten Chancen. Die Geschichte einer Stadt, deren führendes Fußballunternehmen sich jahrzehntelang nicht weiter interessierte für die Begabungen vor der eigenen Haustür. Für Begabungen wie Thomas Häßler. Einen Weltstar und Weltmeister, der dribbeln, Freistöße schießen und Flanken zirkeln konnte wie kein Zweiter. Der Fußballprofi Thomas Häßler hat sein Geld in Köln, Turin, Rom, Karlsruhe, Dortmund, München und Salzburg verdient. Aber nie in seiner Heimatstadt Berlin.

Damit steht er nicht allein. Auch Spieler wie Pierre Littbarski, Rüdiger Vollborn, Christian Ziege und Karsten Bäron wurden von Hertha BSC ignoriert, sie verließen Berlin in Richtung Köln, Leverkusen, München und Hamburg. Aber bei keinem ist der Weggang so schwer zu erklären wie bei Thomas Häßler. Denn der trainierte und spielte in seiner Jugendzeit auf demselben Platz wie Hertha BSC.

Es ist zur heutigen Zeit mit ihren ausgeklügelten Talentsichtungssystemen nur schwer zu vermitteln, dass sich ein so außergewöhnlicher Spieler wie Thomas Häßler bis zu seinem 16. Geburtstag beim Weddinger Kiezklub Meteor 06 verdingt. Er ist Stammspieler in der Jugendnationalmannschaft, und sein Können ist in ganz Berlin bekannt, nur nicht bei dem Verein, der sich mit Meteor den Platz an der Osloer Straße teilt. Hertha BSC empfindet Nachwuchsarbeit in diesen Jahren als unrentablen Firlefanz. Die Jugendmannschaften des Bundesligisten spielen fast ausnahmslos in unteren Klassen. Professionelle Jugendarbeit leisten andere Vereine, der Spandauer SV, BFC Preussen, Hertha Zehlendorf oder Blau- Weiß 90. Und die Reinickendorfer Füchse, in deren Seniorenmannschaft Häßlers Vater spielt. Er fädelt den Wechsel seines Sohnes ein. Als Prämie gibt es ein neues Fahrrad.

Das Jury-Ergebnis bei der Wahl zum besten offensiven Mittelfeldspieler der Bundesliga-Geschichte. Maximal erreichbar sind 132 Punkte.
Das Jury-Ergebnis bei der Wahl zum besten offensiven Mittelfeldspieler der Bundesliga-Geschichte. Maximal erreichbar sind 132 Punkte.

© Tsp

Die Füchse haben nicht viel von ihrem neuen Spieler. Bei einem Sichtungsturnier mit der Berliner Auswahl in Duisburg fällt Häßler dem Kölner Jugendtrainer Christoph Daum auf. Köln ist für Häßler schon deswegen interessant, weil dort mit Pierre Littbarski ein ehemaliger Berliner höchst erfolgreich spielt. Noch in Duisburg sagt er zu. Erst jetzt reagiert Hertha BSC und macht ein Angebot. Zu spät. Häßler kehrt noch einmal für ein paar Wochen zurück zu den Füchsen, im Sommer 1983 verlässt er Berlin. Der 1. FC Köln zahlt 30 000 Mark Ablöse, zwei Drittel davon gehen an Meteor 06.

Die Welt der achtziger Jahre lässt sich schwer vergleichen mit der von heute. Es ist eine Welt ohne Skype und ohne Billigflüge. Wer in den Achtzigern seine Heimatstadt verlässt, der ist wirklich weg und auf sich allein gestellt. Standortnähe ist in dieser Zeit ein unschätzbarer Vorteil, selbst für sportlich weniger attraktive Klubs wie Hertha BSC. Auch Thomas Häßler plagt sich mit den Mühen eines Neuanfangs ein paar hundert Kilometer westlich von Berlin. Ihm fehlen die Berliner Freunde, er ernährt sich bevorzugt von Fast Food und riskiert mit jedem Tag ein Stückchen mehr von seiner sportlichen Zukunft. Der Fußball, den sie in der Kölner A-Jugend spielen, behagt Häßler nicht. Er ist es gewohnt, auf dem Platz schöne Dinge mit dem Ball anzustellen und nur zur Not die Mitspieler einzubeziehen. Von Lauf- und Defensivarbeit hält er nicht viel.

1989 schießt er Deutschland zur WM - ein Jahr später wird er Weltmeister

Anfangs spielt Häßler schon mal mit dem Gedanken, nach Berlin zurückzukehren. Die Wende zum späteren Weltstar schafft er nicht allein, sondern mithilfe einer Frau, die er bei einer Silvesterparty kennenlernt. Die Kosmetikerin Angela hat die Zielstrebigkeit, die Thomas Häßler jenseits des Rasens fehlt. Erst bimst sie ihm das profigerechte Leben ein, später handelt sie seine Verträge aus. Da sind die beiden schon verheiratet.

Unter Angelas Fuchtel kommt Thomas Häßler endlich in der Bundesliga an. Dazu nehmen ihn die Nationalspieler Pierre Littbarski und Toni Schumacher an die Hand. Und dann ist da noch Christoph Daum. Der Mann, der Häßler nach Köln geholt hat, steigt 1986 zum Cheftrainer auf und macht den kleinen Berliner zum Stammspieler. Häßler verzückt das Kölner Publikum mit seinen Tricks und schafft es schnell in die Nationalmannschaft. 1988 bestreitet er das erste von 101 Länderspielen. Das wichtigste steigt, natürlich, in Köln.

Und so wählten Sie, liebe Leserinnen und Leser.
Und so wählten Sie, liebe Leserinnen und Leser.

© Tsp

Der 15. November 1989 ist ein Mittwoch. Vor sechs Tagen ist in Berlin die Mauer gefallen. Häßler ist in ihrem Schatten aufgewachsen, im Norden Berlins, wo die Bezirke Reinickendorf, Wedding und Pankow aufeinander stoßen. Während der Vorbereitung auf das WM-Qualifikationsspiel gegen Wales ist er in Gedanken immer in Berlin.

Für die Deutschen geht es im Müngersdorfer Stadion um alles oder nichts. Nur ein Sieg bringt sie zur Weltmeisterschaft nach Italien. Die Waliser sind längst ausgeschieden, sie können befreit aufspielen und gehen schon nach elf Minuten in Führung. Rudi Völler gleicht eine Viertelstunde später aus, aber das reicht noch nicht. Zur Halbzeit steht es immer noch 1:1, und Thomas Häßler ist bis dahin so gut wie gar nichts gelungen.

Franz Beckenbauer lässt ihn weitermachen. Und wie so oft, wenn er sich von seiner Intuition leiten lässt, hat der deutsche Teamchef auch mit dieser Entscheidung recht. Drei Minuten sind gespielt in der zweiten Halbzeit. Pierre Littbarski, der andere Kölner aus Berlin, flankt in den Rücken der langen Waliser. Der kleine Häßler lässt sich zur Seite fallen und wuchtet den Ball mit seinem schwächeren linken Fuß zum 2:1 ins Tor.

Thomas Häßler beschert Deutschland die WM-Teilnahme, und natürlich ist er auch im Finale von Rom dabei, beim 1:0-Sieg über Argentinien. Als Weltmeister wechselt er zu Juventus Turin und saniert mit seiner 15 Millionen Mark schweren Ablöse den 1. FC Köln.

Und Hertha BSC? Hat nichts gelernt aus den Fehlern der Vergangenheit. 1990 schaffen die Berliner die Rückkehr in die Bundesliga, und zur Verstärkung steht quasi die gesamte Mannschaft des DDR-Serienmeisters BFC Dynamo zur Verfügung. Herthas Manager Horst Wolter aber macht sich gar nicht erst die Mühe, Ausnahmespielern wie Andreas Thom oder Thomas Doll einen Wechsel innerhalb der wiedervereinigten Stadt anzupreisen. Die nächste Generation verlässt Berlin.

Thomas Häßler verfolgt Herthas Schicksal eher mäßig interessiert. Nach vier Jahren in Italien mit 120 Spielen für Juventus und den AS Rom kehrt er 1994 nach Deutschland zurück – natürlich nicht nach Berlin, wo Hertha BSC als Zweitligist mittlerweile am Rande der Bedeutungslosigkeit spielt. Häßler verhilft dem Karlsruher SC zu einer kurzen Blüte, sie endet 1998 mit dem Abstieg. Er zieht weiter. Erst nach Dortmund, dann nach München, wo er sich von Angela trennt. Im Sommer 2004 beendet Thomas Häßler seine Karriere in Salzburg und zieht sich zurück ins Privatleben nach Köln.

Berlin bleibt außen vor im sportlichen Lebenswerk eines der aufregendsten Fußballspieler, den die Bundesliga in 50 Jahren hervorgebracht hat.

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