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Sport: Theoretisch abseits, praktisch nicht

Die internationalen Fußballverbände streiten über eine neue Regel – das verunsichert die Bundesliga

Berlin - Der Ball kommt tief in den Strafraum geflogen. Torwart und Stürmer rennen gleichzeitig auf ihn zu, der Torwart prallt am kräftigen Angreifer ab und geht kurz benommen zu Boden. Dass es überhaupt zu diesem Zusammenstoß kam, lag an den neuen Abseitsregeln, bei denen der Pfiff erst ertönt, wenn der abseits stehende Spieler den Ball annimmt. Der Stürmer in dieser Szene, Brasiliens Adriano, war beim Confed-Cup-Spiel gegen Mexiko deutlich im Abseits und kämpfte gegen Torwart Oswaldo Sanchez um den Ball, obwohl nach altem Regelwerk längst abgepfiffen worden wäre. Solche Szenen wird es in der kommenden Bundesligasaison nicht geben – denn die neue Auslegung der Abseitsregel gilt zwar theoretisch weltweit, praktisch aber in Europa nur eingeschränkt.

„Die Regel birgt in bestimmten Situationen ein Verletzungsrisiko“, sagt der Berliner Schiedsrichter Manuel Gräfe. Eigentlich sollte die vom Fußball-Weltverband Fifa beim Confed-Cup in diesem Sommer eingeführte Regeländerung mehr Torraumszenen ermöglichen und das Spiel attraktiver machen. Demnach sollen die Schiedsrichterassistenten so lange mit dem Heben ihrer Fahne warten, bis der im Abseits stehende Spieler den Ball tatsächlich angenommen hat. Steht also ein Angreifer im Abseits, nimmt den Ball aber nicht an, dann läuft das Spiel weiter und ein anderer Angreifer kann den Ball aufnehmen.

Bei der bisherigen Anwendung zeigte sich allerdings: Die neue Abseitsvariante kann unangenehm für die Assistenten werden. Sie müssen einem in klarer Abseitsposition befindlichen Spieler hinterher laufen und dürfen die Fahne erst heben, wenn dieser den Ball berührt. Der Assistent muss schon einigen Mut beweisen, wenn die Fans in seinem Rücken bereits zum Torschrei ansetzen – und er während des Torschusses die Fahne heben muss. Womöglich könnte er sich in so einer Situation verunsichern lassen. „Die Gefahr der Beeinflussung dürfte ohne Frage größer sein“, sagt Hellmut Krug, Leiter der Schiedsrichterabteilung beim Deutschen Fußball-Bund (DFB).

Wegen der vielen Einwände wollen sich die Mitglieder des europäischen Fußballverbandes Uefa der neuen Abseitsregel der Fifa in der kommenden Saison „nicht uneingeschränkt anschließen“, wie Krug sagt. Deshalb ging sogar ein Schreiben der Uefa an die europäischen Nationalverbände, das eine komplette Umsetzung der Fifa-Regel ablehnt, sagte ein Sprecher der Uefa dem Tagesspiegel. Wichtigste Botschaft des Schreibens sei, dass die Unparteiischen sofort Abseits pfeifen sollen, wenn klar ersichtlich sei, dass der im Abseits stehende Spieler der Einzige ist, der den Ball verwerten kann. Damit soll das Verletzungsrisiko der Spieler verringert werden. Genau so wird die Regel in der Bundesliga umgesetzt.

Das Schreiben der Uefa steht im starken Gegensatz zu den Aussagen des Fifa-Generalsekretärs Urs Linsi. Der hatte zur Handhabung der neuen Abseitsregel dem „Kicker“ gesagt: „Da gibt es keinen Spielraum.“ Von dem Schreiben weiß Linsi offenbar nichts: „Es gibt und kann keine anderen Anweisungen geben. Sämtliche Verbände sind verpflichtet, den Beschlüssen zu folgen.“ Am Mittwoch war die Fifa zu keiner Stellungnahme bereit. Dem Weltverband bleibt noch etwas Zeit für Überzeugungsarbeit.

Das International Board, die für das Regelwerk zuständige Regelkommission, tagt erst wieder im Frühjahr 2006. Dann soll das Abseits auf der Tagesordnung stehen – und die Bundesliga müsste unter Umständen mitten in der Saison doch wieder komplett nach Fifa-Regeln spielen. Bisher hat der Weltverband angekündigt, die neue Abseitsregel auch bei der Weltmeisterschaft in Deutschland anzuwenden. Wie beim Confed-Cup im Juni ist sie dann erneut Veranstalter des Turniers.

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