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Kahle Schönheit: Der Mont Ventoux verführt mit eigenen Reizen (hier die Tour de France 2007). Über den Ausblick von oben schrieb schon Petrarca.

© AFP

Tour de France am Mont Ventoux: Der dunkle Berg soll leuchten

Eine Bergetappe als Sonntagsausflug: Der Mont Ventoux war bislang Symbol für die Leiden der Tour de France – bei ihrer 100. Auflage soll das aber anders sein.

Der Berg ruft! Der Mont Ventoux, der „kahle Riese der Provence“, empfängt zum französischen Nationalfeiertag an diesem Sonntag das Peloton der Tour de France. Das ist gut geplant bei der 100. Tour, selbst wenn angesichts fehlender selektiver Hügel vor dem großen Brocken die sportliche Bedeutung nicht so hoch ist wie der Berg. Vielleicht ist aber genau das richtig und führt zu einem neuen Kapitel in der Ventoux-Betrachtung.

Der Mont Ventoux war lange Zeit ein Berg der Leiden. Als solcher hat er sich vor allem wegen der Tour de France ins öffentliche Bewusstsein eingeprägt. Im Amphetamin-Zeitalter des Radsports verlor 1955 bei einer Etappe über den Ventoux der Franzose Jean Mallejac das Bewusstsein. 1967 starb der Brite Tom Simpson benebelten Geistes kurz vor dem Gipfel. Zu Erschöpfung und Amphetaminen kam bei ihm ein fataler Schluck Cognac hinzu.

Die hohen Epo-Dosen in der jüngeren Vergangenheit bewirkten, dass manche Fahrer mit dickerem Blut den anderen, deren Blut noch etwas flüssiger durch die Adern pulsierte, mit ihren Antritten derartige Schmerzen bereiten konnten, dass das Leiden die wesentliche Erfahrung war. Die Gleichung lautete: Dickeres Blut gleich mehr Leistung, dünneres Blut gleich mehr Schmerzen. „2006 bin ich mit dem Gelben Trikot der Dauphiné den Berg hoch gefahren. Das war ein prima Erlebnis, was die Begeisterung der Zuschauer anbelangt. Oben nahmen mir die anderen aber fünf Minuten ab. In diesen Zeiten hattest du keine Chance gegen diese Leute“, erinnert sich Philippe Gilbert, aktueller Radweltmeister, an sein bedeutendstes Erlebnis mit dem Gipfel. Was damals in Gilberts Adern geflossen sein mag, soll jetzt nicht Gegenstand der Spekulation sein. Bemerkenswert ist aber eine Bedeutungsverschiebung. Gilbert glaubt in diesem Jahr jedenfalls an einen in sportlicher Hinsicht weniger demütigenden Aufstieg.

Selbst bei Sprintern stehen die Zeichen nicht auf Leiden, sondern auf Vergnügen. „Ich freue mich auf diesen mythischen Berg und die vielen Zuschauer dort“, erklärt John Degenkolb. Der bullige Klassikerspezialist geht davon aus, mit der ersten großen Gruppe ins Ziel zu kommen. „Die Organisatoren haben uns Sprintern in diesem Jahr einen großen Gefallen getan, indem sie keinen Berg vor dem Berg ins Programm genommen haben. Wir können also unbesorgt ums Zeitlimit den Anblick der Landschaft und der Leute genießen“, meint er.

Degenkolb schwingt sich damit fast auf die Höhe von Petrarca. Der italienische Nationaldichter hatte 1336 „nur zum Vergnügen“, wie er später schrieb, den Ventoux bestiegen und von dort die Aussicht auf die Alpen und das Mittelmeer bewundert. Ihm folgten viele – und auf vielerlei Weise. 1902 hieß es auf einer Postkarte: „Der Aufstieg zum Mont Ventoux beansprucht sieben Stunden im Auto, sechs Stunden zu Fuß und dreieinhalb Stunden für einen trainierten Radfahrer.“ Heutzutage sind Autofahrer und Radfahrer dank besserem Material schneller. Und auch immer öfter auf dem Gipfel.

„Beim ersten Mal ist der Berg nur Leiden. Seine Schönheit offenbart er dir erst beim zehnten oder zwanzigsten Mal“, erzählte der Radsportamateur Hans Freihammer. Er muss es wissen. Zwischen 1977 und 2010 hat er den Berg 234 Mal bestiegen.

Freihammer ist nicht allein. In den Dörfern rings um den Berg ist die Multikletterei Volkssport. Bei der „Masterseries“ wird der Ventoux binnen 24 Stunden so oft wie möglich befahren, am besten auf den drei unterschiedlichen Routen. Fünf Mal ist das Minimum für den „Master“. Der absolute Rekord, aufgestellt 2006, allerdings nur auf einer Route – der über Bédoin, die heute auch von den Profis befahren wird – liegt bei elf Aufstiegen in 24 Stunden. Er wird gehalten von den lokalen Amateuren Jean-Pascal Roux und Stephane Rubio. „Wir haben das für uns gemacht, nicht für die Leute oder ein Klassement“, erklärte Roux hinterher. Er gab zu, dass es immer Skeptiker geben werde, die glaubten, dass das nur mit Doping ginge. Er stellte den Mehrfachaufstieg aber als eine Übung in Sachen Selbstüberwindung dar.

Ticken die Profis inzwischen wie diese Amateure? Schwer zu sagen. Der Leistungsdiagnostiker Antoine Vayer hat auch für diesen Berg einen Geschwindigkeitsradar aufgestellt. Wer die letzten 15,9 Kilometer ab Saint Estéves in weniger als 45:42 Minuten bewältigt, ist laut seiner Rechnung nach „Mutant“ (die Bestzeit vom Spanier Iban Mayo, 2004 aufgestellt, kratzt mit 45:47 Minuten knapp an dieser Grenze). 47:32 Minuten sind „wundersam“ (darunter liegt der Italiener Marco Pantani, 1994 46:00 Minuten). 49:30 Minuten sind „verdächtig“ (2002 von Lance Armstrong mit 48:30 Minuten unterboten). Die heute gefahrenen Zeiten werden zeigen, ob sich die Bergbesteigung wandelt oder die Zeichen der Hoffnung doch nur Trugbilder waren.

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