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Radsport

© dpa

Tour de France: Der nächste Versuch

Es scheint, als sei die Zeit der großen Lügen im Radsport vorbei. Doch wo steht er vor der Tour de France?

Wenige Monate, bevor Jan Ullrich und andere bei der Tour de France 2006 ausgeschlossen wurden, erschien ein kleines Buch des amerikanischen Philosophieprofessors Harry G. Frankfurt auf Deutsch. Es trägt den Namen „Bullshit“ und versucht zu umreißen, was diesen ausmacht und warum es so viel davon gibt. Eine Übersetzung des Begriffs selbst ist unnötig, da er auch im Deutschen gebräuchlich ist, und der eine oder andere, mit dem man sich über Radsport unterhält, hat ihn zumindest in den vergangenen beiden Jahren häufiger benutzt.

Wobei dieses Urteil damit meist etwas anderes meinte, als Bullshit nach der Definition von Frankfurt ist. Immer und immer wieder haben Fahrer und Teamchefs glatt gelogen, wenn sie sagten, dass sie nie gedopt hätten und sich die Testergebnisse überhaupt nicht erklären könnten, nichts von Doping in ihrem Team wüssten oder sich sicher seien, dass ihre Fahrer so etwas nicht machten.

Harry G. Frankfurt grenzt Bullshit aber von der bewussten Lüge ab. Sein plastisches Beispiel ist ein Politiker, der eine Rede zum amerikanischen Unabhängigkeitstag hält und sich „in bombastischen Worten über ,unser großartiges und gesegnetes Land’ ergeht, ,dessen Gründerväter unter Gottes Führung eine neue Ära der Menschheit eingeläutet haben’“. Der Inhalt dieser Rede sei natürlich Humbug, ebenso wie es Humbug war, als nach der Tour de France 2006 und dem Dopingskandal „Operacion Puerto“ Verantwortliche im Radsport von einem sofortigen, kompletten Neuanfang fabulierten.

Laut Frankfurt könne man aber nicht behaupten, dass der Redner in dem Beispiel lüge. Er würde nur dann lügen, wenn er die Zuhörer etwas glauben machen wollte, das er selbst nicht glaubt: dass das Land groß und gesegnet sei, und dass den Gründervätern ein Neuanfang für die Menschheit zu verdanken sei. Doch dem Redner sei es nicht wirklich wichtig, was seine Zuhörer über die Gründerväter und ihre Bedeutung denken. Es geht vor allem darum, dass der Redner mit seinen Behauptungen einen bestimmten Eindruck von sich selbst vermitteln will. Er versuche nicht, seine Zuhörer hinsichtlich der amerikanischen Geschichte zu täuschen. Ihm gehe es vielmehr darum, was die Menschen über ihn denken. Er möchte, dass sie ihn für einen Patrioten halten, für jemanden, der tiefgründige Gedanken und Gefühle über den Ursprung und die Mission des Landes hat. Zum Wesen des Bullshits gehört, dass der Redner nicht bewusst lügt. Es interessiert ihn vielmehr nicht im Geringsten, ob es der Wahrheit oder nicht der Wahrheit entspricht, was er sagt.

Diesen Eindruck vermitteln auch viele Menschen in wichtigen Positionen des Radsports. Sicher gibt es einige Teamchefs, die vehement gegen Doping kämpfen, wenn auch eher aus Geschäftsinteresse denn aus einer höheren Einsicht. Das Risiko, beim Lügen erwischt zu werden, ist wegen verbesserter und gezielterer Kontrollen gestiegen, der wirtschaftliche Schaden wäre für den Einzelnen womöglich irreparabel. Und sicher würden sich alle freuen, wenn das Dopingproblem der Vergangenheit angehörte.

Dem ist aber nicht so. Der Fortschritt scheint vielmehr darin zu bestehen, dass nach den Jahren des Lügens nun die Zeit des Bullshits gekommen ist. Den hat es im Radsport natürlich auch schon immer gegeben, weil viele, die nicht genau wussten, was passiert, darüber redeten, um einen guten Eindruck von sich zu vermitteln. Dazu gehörten natürlich auch die Medien, allen voran aber der Veranstalter der Tour de France, die ASO. Dem war es über Jahrzehnte egal, ob das, was über Doping geredet und berichtet wird, der Wahrheit entspricht. Es zählte allein, was über die Tour generell gedacht wurde, und da war der Mythos der leidenden Kämpfer immer größer als die Probleme wegen verbotener Leistungssteigerung.

Tour-Direktor Christian Prud’homme hofft auch in diesem Jahr, dass „die Romantik“ wiederkehrt. „Die Chance ist groß, dass Teams und Fahrer dafür sorgen werden, die Glaubwürdigkeit zurückzugewinnen“, sagt er und kann dabei auf Maßnahmen wie den Ausschluss des dopingbelasteten Astana-Teams, neue Tests und die Androhung hoher Bußgelder (nicht für Einzelfälle, sondern nur beim Beweis systematischen Team-Dopings) verweisen, mit denen der Gewinn von zuletzt 1,3 Millionen Euro pro Etappe gesichert werden soll.

Die Frage ist, wer das noch sehen will, zumindest in Deutschland. Denn Bullshit ist im Gegensatz zu einer (schönen) Lüge als solcher leicht erkennbar. Das vermutete Interesse ist jedenfalls gering. Wenn man im Zeitschriftenladen fragt, warum es in diesem Jahr die Sonderhefte von Kicker, Sportbild und so weiter nicht gibt, lautet die Antwort: „Die gibt es dieses Jahr drüben in der Apotheke.“

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