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Radsport

© AFP

Tour de France: Hinabgestiegen zu den Sterblichen

Lange war die Tour de France über so profane Dinge wie Doping erhaben. Doch seit sie selbst dagegen kämpft, ist ihr Untergang nicht mehr ausgeschlossen.

Gott ist tot. Diesen Satz kann man dieser Tage wieder in Frankreich lesen und nicht mehr nur wie zuletzt in Deutschland. Es ist die dritte Tour de France in Folge, bei der es nur noch um das Thema Doping geht, und jetzt macht man sich auch im Land dieses wandernden Nationalfeiertages ernsthaft Sorgen. Die Gottheit Tour, die seit mehr als 100 Jahren ihre mythischen Helden zur Erbauung der Normalsterblichen entsendet, die eigentlich auch zum Menschengeschlecht gehören und doch über sich hinauswachsen. Das Abstraktum Tour, das aus den Leidensgeschichten seiner Protagonisten besteht und doch immer eine höhere Instanz geblieben ist. Kann so etwas überhaupt sterben? Allein diese Frage ist nicht nur für viele Radsportfreunde Blasphemie und sie hat sich so lange nicht gestellt, bis sich die Tour selbst zum handelnden Akteur gemacht und damit profanisiert hat. Vielleicht beginnt damit ihr Untergang.

Sie sieht sich dazu genötigt, weil nicht mehr zwischen drei eigentlich verschiedenen Dingen unterschieden wird: Doping, Radsport und Tour de France. Sicher war Radsport seit seinen Anfängen Doping. Und Radsport wurde vor allem immer als das wahrgenommen, was Tour de France heißt. Doch die Tour war immer mehr als das. Alle Regionen, alle sozialen Schichten und alle Altersklassen der französischen Bevölkerung sind dabei und können kostenlos – wie bei keinem anderen Großereignis sonst – an der Begeisterung teilhaben. So wie die Franzosen selbst ihr Land während der Tour sehen, ist auch das Bild, das über das Fernsehen in die ganze Welt transportiert wird, inklusive der Geschichten über den Kräuterschnaps aus der Region und die Chateaux am Wegesrand. Das war immer ein Grund für den Erfolg.

Doch der andere, Geschichten wie die des Fahrers, der 1913 wegen einer gebrochenen Gabel mit dem damals noch schweren Rad auf der Schulter 14 Kilometer bis zur nächsten Schmiede stapfte und sein Arbeitsgerät eigenhändig reparierte, weil Hilfe anzunehmen verboten war, dieser Grund ist plötzlich weniger wert. Nicht, weil auch dieser Fahrer damals seiner Leistung wahrscheinlich ein wenig nachgeholfen hat. Die ganz große Skepsis betrifft vor allem die jüngsten Jahre. Sondern, weil das Doping ein so großes Problem ist, dass Doping mit Radsport und mit der Tour de France gleich gesetzt wird.

Hinzu kommt, dass auch eine andere Unterscheidung so nicht mehr gültig ist. In keinem anderen Land wird sich so intensiv und so moralisch mit Doping auseinandergesetzt wie in Deutschland. Auch nicht bei den Franzosen, obwohl Frankreich, das schon vor zehn Jahren in Richard Virenque seinen Jan Ullrich hatte, daraus viele Lehren wie zum Beispiel harte Gesetze gezogen hat und seit Jahren kein Franzose bei der Tour mehr ganz vorne dabei war. Derzeit ist der Beste 22. Dennoch war die Bedeutung des Themas nicht sehr viel größer als in Spanien und Italien, wo Doping nach wie vor keine nennenswerte öffentliche Rolle spielt. In Frankreich hat sich das mit der Tour 2008 geändert, und es zeigt, wie schwer es die herabgestiegene Gottheit hat, sich als einer von mehreren Teilnehmern im Kampf um die Deutungshoheit der Ereignisse zu behaupten.

Eigentlich schlägt das große Pendel der Paradoxie in diesen Tagen ja ein kleines bisschen zugunsten der Tour de France aus. Das Pendel ist der Tagesanzeiger dafür, wer gerade die Art der Antwort auf die Frage bestimmt, ob ein Dopingfall ein Erfolg oder ein Misserfolg ist. Beweist ein erwischter Fahrer, dass das Kontrollsystem funktioniert und es deswegen Hoffnung gibt, dass die anderen damit aufhören? Oder ist es doch nur so, dass bei dieser Tour ausnahmsweise einmal die Kontrolleure auf Augenhöhe sind, weil die Fahrer schlecht informiert waren und fälschlicherweise davon ausgingen, dass ihre aktuell verwendete Variante des Blutdopingmittels Epo nicht nachweisbar ist?

Diese Frage ist sehr wichtig für die Zukunft des Radsports; die Krise der Tour de France besteht aber darin, dass auch ihre Zukunft damit verknüpft zu sein scheint. Die Tour ist zu einer jährlichen Leistungsschau dafür geworden, was Dopingjäger und Gejagte denn gerade so draufhaben. Als 2006 die Favoriten von der Tour ausgeschlossen wurden und der Dopingskandal „Operacion Puerto“ das beherrschende Thema in den Medien war, stellte der damalige Tour-Direktor Jean-Marie Leblanc noch „einen wunderbar ermutigenden Widerspruch“ fest. „Die Begeisterung des Publikums hat sich verzehnfacht. Das ist nicht nur Begeisterung, das ist Leidenschaft. Wir sind ein traditionelles Ereignis, das von Schändlichkeiten gebeutelt wurde, aber trotz allem diejenigen verzückt, die sich dafür interessieren.“

Im vergangenen Jahr, wieder einem mit vielen spektakulären Dopingfällen, sprach der neue Tour-Direktor Christian Prudhomme dann bei jeder Gelegenheit von der „Romantik“, die er seiner Veranstaltung zurückgeben wollte. Das tat er auch noch zu Beginn dieser Tour. Inzwischen hat er es eingestellt. Die Verantwortlichen haben sich von ihrer Taktik verabschiedet, die Delinquenten als „Einzelfälle“ abzutun, stattdessen wollen sie den Retter geben, auch in Konkurrenz zum Wirtschaftsrivalen Weltverband. Der Streit mit ihm ist ein Grund dafür, dass die Tour sich mit den Niederungen des Tagesgeschäfts beschäftigt. Welche Probleme daraus erwachsen können, zeigt sich daran, dass das schwer dopingbelastete Team Astana in diesem Jahr nicht zugelassen war und weiter beobachtet werden sollte, im Zuge der Abspaltung der Top-Teams vom Weltverband aber für das nächste Jahr bereits das Startrecht besitzt. Hier gewinnt das wirtschaftliche Interesse des Tour-Veranstalters ASO, der auch mit einer Skandal-Rundfahrt wie der 2007 mehr als eine Million Euro verdient hat. Pro Etappe. Auch in diesem Jahr ist es am Straßenrand voll, und so lange es ihre größte Sorge war, dass das Publikum im Schnitt altert und die jungen Zuschauer nur noch Enkel in Begleitung ihrer Großeltern sind, ging es der Tour gut.

Doch jetzt schlägt langsam ein Problem durch, das man vielleicht mal ein oder zwei Jahre ohne Folgen verkraften kann, nicht aber mittel- oder gar langfristig: Die Tour produziert keine Helden mehr. Nicht nur keine französischen, sondern überhaupt keine mehr. Es ist derzeit nicht abzusehen, wann ein Sieger der Tour de France überhaupt wieder ein solcher sein kann. Sicher würden der Anti-Doping-Kampf und der Generalverdacht gegen die Profis in den Hintergrund treten, wenn ein Franzose vorneweg fahren würde, und ähnlich wäre es auch in Deutschland, wenn er nicht gerade so eine Vorgeschichte mit verdächtigen Blutwerten hätte wie Stefan Schumacher, der in diesem Jahr das Gelbe Trikot trug. Aber die Chance für neue Helden wird mit jeder Anti-Doping-Maßnahme schwieriger, weil jede neue Maßnahme auch die Schwierigkeiten aufzeigt, aufgrund derer man eigentlich gar nicht des Problems Herr werden kann.

Die Direktion der Tour de France hat sich dafür entschieden, diesen Kampf als handelnde Person aufzunehmen. Sie traut sich angesichts der äußerst schwierigen Lage, in der sich der Radsport befindet, seit das systemimmanenten Doping ernsthaft verfolgt wird, nicht mehr zu, Kritik einfach zu absorbieren und den Dingen ihren Lauf zu lassen, weil die Tour schließlich die Tour ist. Doch heute denkt jeder ständig daran, dass ihre schnellen Fahrer nur Übermenschen dank alberner Hilfsmittel sind, und die Tour steht vor Fragen wie der, ob sie nicht zur Reinigung mal nur mit ein paar als sauber geltenden Teams an den Start gehen sollte, auf einer ohne Doping zu bewältigenden Strecke. Eine solche Banalisierung wäre dann tatsächlich ihr Tod.

Erst einmal reicht es, zu denen zu gehören, die überhaupt sterben können.

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