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Sport: Training auf dem Atlantik

Vor 75 Jahren wurde in Uruguay die erste Fußball-WM angepfiffen – Europas Spieler reisten per Dampfer

Es regnete an diesem Sommertag in Montevideo, doch das hielt die am Hafen versammelte Menschenmenge nicht ab, die Ankömmlinge aus dem fernen Europa mit Böllerschüssen zu empfangen. Dem 170 Meter langen italienischen Luxusdampfer „Conte Verde“ eskortierten heimische Motorboote, auf denen die Flaggen Frankreichs, Belgiens und Rumäniens gehisst waren – Begrüßung für die Sportler, die zwei Wochen zuvor in der alten Welt die Reise zur ersten Fußball- Weltmeisterschaft angetreten hatten.

Am 13. Juli 1930, heute vor 75 Jahren, begann die Geschichte der Fußball-Weltmeisterschaften. Frankreich trat gegen Mexiko an, in der 19. Minute erzielte Lucien Laurent mit einem Volleyschuss das erste Tor. Der Franzose war 22 Tage zuvor nahe Nizza per Schiff zum Abenteuer ins 10 000 Kilometer entfernte Uruguay aufgebrochen. Franzosen, Belgier und Rumänen reisten mit der „Conte Verde“. Die Rumänen, von denen zwölf Spieler zum ersten Mal das Mittelmeer sahen, fuhren zunächst mit dem Zug auf harten Holzbänken sitzend nach Genua, um sich dort am 19. Juni einzuschiffen. „Für das Geld, das ein Schlafwagen gekostet hätte, haben wir uns einen WM-Anzug gekauft“, erzählte der Mittelfeldakteur Alfred Eisenbeisser. Die Franzosen gingen am 21. Juni an Bord, zwei Tage später kamen die Belgier in Barcelona dazu. Die Jugoslawen fuhren mit der „Florida“.

Uruguay, 1924 und 1928 Fußball- Olympiasieger, hatte vom Weltverband Fifa die Ausrichtung der WM-Premiere zugesprochen bekommen. Das nur zwei Millionen Einwohner zählende Land war damals ein Wohlfahrtsstaat. Acht-Stunden-Arbeitstag, kostenlose Schulbildung, Mindestlöhne in Industrie und Handel – was in Europa nicht überall die Regel war, hatte der Kleinstaat am Rio de la Plata mit Hilfe seiner Exporterträge durch Schafwolle und Rinderprodukte verwirklicht. Europas führende Länder wollten dennoch nicht anreisen. Den britischen Verbänden war die Reise nach Uruguay zu weit. In Österreich, Ungarn und der Tschechoslowakei, die bereits den Profifußball eingeführt hatten, weigerten sich die Vereine, ihre Spieler für zwei Monate abzustellen. Und der am Amateurideal festhaltende Deutsche Fußball-Bund mied alle Turniere mit Berufsfußballern.

Wer aufbrach, erlebte Luxus. Die Spieler waren auf der „Conte Verde“ in Zwei-Personen-Kabinen der Ersten Klasse untergebracht. Für Fußballreisende war das 2400 Passagiere fassende Schiff mit Friseursalon und Turnsaal jedoch nicht ideal. Gymnastik und Turnübungen waren die einzigen Möglichkeiten zum Training, beschränkt auf die Morgenstunden, um die Mitreisenden nicht zu stören. So sprangen die Kicker im Morgengrauen Seil, übten Bockspringen, spielten Curling, schwangen sich an den Ringen – oder ließen es auch bleiben, weil das Kartenspielen am Vorabend etwas länger gedauert hatte.

Allabendlich fanden Tanz und Show statt, die Menükarte wurde als Dokument von gesellschaftlichem Wert in der Londoner „Times“ abgedruckt, die später das sportliche Ereignis komplett ignorieren sollte. „Am ersten Tag feierten wir die Abreise des Schiffes, am nächsten Tag die Fernsicht des afrikanischen Ufers, dann die Überquerung des Äquators“, schilderte Belgiens Torwart Arnold Badjou. Zur Unterhaltung hatte die Reederei die Opernsänger Fjodor Schaljapin und Marthe Nespoulos engagiert.

Beim Zwischenstopp in Rio de Janeiro, bei dem Brasiliens Selecão an Bord ging, wurden die Europäer von Journalisten bestürmt. „Die Herren Fischer und Rimet bekamen da die Gewichtigkeit ihres Daseins zu spüren“, spottete Schiedsrichter John Langenus über das Fifa-Führungsduo. Präsident Jules Rimet grinste stolz, als seine Tochter beim Festball mit einem aus Bettlaken geschneiderten Kostüm ausgezeichnet wurde. Rimets Stellvertreter Moritz Fischer posierte mit „zwei Negern der brasilianischen Gesellschaft“, wie er sie nannte. Diese würden so schön Gitarre spielen und „traurig-süße Lieder des Südens“ singen.

Das Turnier war dann nicht so spektakulär wie die Überfahrt. Brasilien schied schon in der Vorrunde aus, von den Europäern erreichten nur die Jugoslawen das Halbfinale und verloren dort 1:6 gegen Gastgeber Uruguay, der die WM schließlich gewann.

Der Dampfer „Conte Verde“ schrieb größere Geschichte. Flüchtlingen aus NS-Deutschland bot er die Möglichkeit zur Ausreise. Tausende deutsche und österreichische Juden flohen per Schiff in das visafreie Schanghai. Dann fiel die „Conte Verde“ in japanische Hand. 1944 wurde sie von US-Fliegern versenkt.

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