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Trauermeile. Das Turnieraus können die brasilianischen Fans nicht wirklich begreifen.

© Reuters

Traum und Trauma: Wie Brasilien trauert

Seit dem 1:7 vor vier Jahren haben viele Brasilianer die Leidenschaft am Fußball verloren. Das Aus gegen Belgien nehmen sie fast schon gelassen hin.

Diesmal flossen nicht so viele Tränen. Auch von Wut war nicht viel zu spüren. Niemand schimpfte auf die faulen Millionäre in den gelben Trikots, die sich nicht aufopfern würden. Die 1:2-Niederlage der brasilianischen Nationalmannschaft gegen Belgien, die das Aus bei der Weltmeisterschaft in Russland bedeutete, wurde erstaunlich gelassen hingenommen bei einem Public Viewing in Rio de Janeiros zentralem Viertel Glória. „So ist er, der Fußball“, hieß es aus einer Gruppe von fünf jungen Männer. Sie hatten gerade – Bier und Fleischspieße in den Händen – das Spiel ihrer Seleção verfolgt, aber es klang so, als ob sie nach einem Platzregen sagen würden: So ist es, das Wetter.

95 Minuten hatten einige Hundert Menschen, die meisten in gelben Trikots, vor einer Leinwand gestanden und gesessen. Sie hatten unter einem grün-gelben Himmel aus Plastikfähnchen gehofft, gebrüllt, die Hände über dem Kopf zusammengeschlagen, gejubelt und schließlich resigniert mit den Schultern gezuckt. Eine ältere Frau, die während des Spiels immer wieder lautstark gefordert hatte, doch endlich mal diesen Schrank (gemeint war Lukaku) von den Beinen zu holen, sagte: „Die Belgier waren heute Brasilianer.“ Ihre Freundin fügte hinzu: „Der Torwart der Belgier ergab den Unterschied. Er war auch sehr schick, so ganz in schwarz gekleidet.“

Über eine lange Zeit war im Spiel nicht mehr viel zu spüren von der unbedingten Leidenschaft, für die die Brasilianer viele Jahre lang berühmt waren. Es gab Zeiten, in denen sie sich hier nach einer WM-Niederlage aus dem Fenster stürzten – oder zumindest drei Tage lang depressiv aufs Sofa legten. Diese Hingabe ist einem nüchternen Realismus gewichen. „Das Leben geht weiter, Brasilien hat größere Probleme als Fußball“, sagte ein dickbäuchiger Mann, Taxifahrer von Beruf. Er wollte aber auch betont haben, dass die Seleção nicht wie damals „gegen euch“ untergegangen sei, sondern bis zur letzten Minute gekämpft habe: „Die Belgier hatten Glück, und bei uns kam Pech dazu. So ist das.“

Diesmal entspannte man sich recht schnell

Der Verlust der Leidenschaft, die Abnahme der Identifikation mit der Seleção – alles begann wohl 2006 und 2010 mit dem frühzeitigen WM-Ausscheiden Brasiliens. Und es kumulierte 2014 im traumatischen Spiel gegen Deutschland. Seitdem, so scheint es, haben viele Brasilianer ihre Fußball-Emotionen neu justiert. Natürlich sind Spieltage der brasilianischen Mannschaft immer noch Feiertage und ganze Belegschaften bekommen frei. Aber die Menschen schmücken und bemalen ihre Straßen nicht mehr so ausgiebig. Und manche ziehen aus Protest gegen die ihrer Meinung nach politisch motivierte Gefängnisstrafe für Ex-Präsident Lula da Silva auch mal ein rotes Trikot mit Hammer und Sichel an.

Die Seleção, sie hat auch die Fähigkeit verloren, die tiefen politischen und sozialen Gräben Brasiliens zu überbrücken. Mancher wies über Twitter darauf hin, dass die brasilianischen Fans in Russland allesamt weiße Oberschichtsangehörige seien, während die Armen und Schwarzen zuhause mitfieberten. Aber eine derart gespaltene Nation könne und dürfe nicht gewinnen. Die Brasilianer blicken auch anders auf ihre Fußballer. Skeptischer.

So hält man zwar Neymar auch in Brasilien für einen überdurchschnittlichen Spieler, ist aber leicht angewidert von seiner Eitelkeit, seiner Schauspielerei und seiner Unreife. Als „moleque mimado“ haben sie ihn beim Spiel gegen Belgien beschimpft: „Verwöhnter Bengel!“ Oder „Vaçilão!“ – Schwankender! Eigentlich sollte der Wettbewerb in Russland ja Neymars Turnier werden, nachdem er vor vier Jahren, in eben jenem denkwürdigen Halbfinale, verletzt gefehlt hatte. Nun sind seine zirkusreifen Auftritte erst einmal Geschichte.

Der kritischere Blick der Brasilianer hat auch damit zu tun, dass das Land seit 2012 in einer tiefen wirtschaftlichen, politischen und moralischen Krise steckt. Sie wird auch in den kommenden Jahren noch nicht ausgestanden sein. Im Oktober stehen Präsidentschaftswahlen an, aber es ist niemand da, der Hoffnung macht. Kein Kandidat, der eine Vision hat. Und täglich erfahren die Brasilianer von neuen Korruptionsskandalen, nehmen Gewalt und Kriminalität zu, während das öffentliche Bildungs- und das Gesundheitssystem so unterfinanziert sind, dass in den Hospitälern Medikamente und in den Schulen Bücher fehlen.

Dazu passt dann natürlich, dass der brasilianische Fußball immer noch vom verkommenen Verband CBF kontrolliert wird, der keine Anstrengungen macht, sich zu reformieren. Der vorletzte CBF-Präsident sitzt in den USA wegen Korruption in Haft, der letzte CBF-Chef wagt sich nicht aus Brasilien hinaus, weil ihm dann eine Festnahme durch Interpol drohen könnte.

Trauriger Abgang. Neymar half dem Rekordweltmeister gegen Belgien kaum.
Trauriger Abgang. Neymar half dem Rekordweltmeister gegen Belgien kaum.

© dpa

Natürlich können die Coutinhos, Paulinhos und Fernandinhos nichts für den CBF, aber er verdirbt vielen Brasilianern die Laune auf den Fußball. Und die Spieler selbst machen den Mund nicht auf. Das kritisiert sogar der ehemalige Spieler und dreifache Weltmeister Paulo Cezar Caju scharf. Er nennt die Spieler „eine Bande von Entfremdeten“. Tatsächlich verdienen nur drei von 23 Auswahlspielern ihr Geld in Brasilien selbst. Aber in Brasilien, sagt Caju, könnten sich nur noch die Reichen einen Stadionbesuch leisten, weil die Stadien nach der WM elitisiert worden seien.

Der Blick vieler Brasilianer hat sich also gewandelt. Dass nur der Titel bei der WM in Russland die Schmach des 1:7 wiedergutmachen könnte, hörte man oft vor dieser Weltmeisterschaft. Doch dieser Anspruch schien nach dem 1:2 gegen Belgien vergessen zu sein. Man war zwar enttäuscht – insbesondere weil das bisherige Auftreten der Seleção große Hoffnungen geweckt hatte –, aber doch erleichtert darüber, dass Brasilien nur wegen der Fingerspitzen des belgischen Torhüters ausschied.

Vor vier Jahren waren viele Brasilianer noch geschockt, sie hatten das Gefühl, einer Katastrophe beigewohnt zu haben. Nun herrscht statt Betroffenheit Pragmatismus. Dass man sich jetzt eben den Hexa, den sechsten Titel, in vier Jahren in Katar hole, sagten die beiden alten Damen noch. „Dann sind die Spieler auch ein bisschen reifer“, sagte die eine. Und die andere: „Genau. So wie wir.“

Auch das ist eine brasilianische Eigenart: ein unverwüstlicher Humor im Angesicht von Niederlagen.

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