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Europameister am Barren: der Turner Marcel Nguyen.

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Update

Turn-EM in Berlin: Marcel Nguyen holt überraschend Gold am Barren

56 Jahre lang war kein Deutscher mehr Europameister am Barren. Marcel Nguyen sorgt bei den Wettkämpfen in Berlin dafür, dass diese titellose Zeit vorbei ist.

Es war eher ruhig in der Max-Schmeling-Halle, das übliche Stimmengewirr, aber aus den Boxen dröhnte mal keine ohrenbetäubenden Disco-Titel oder sanfte Klaviermusik. Da durchbrach der Hallensprecher die gefühlte Ruhe. „Wo sind die deutschen Fans?“, brüllte er, während unten ein schmaler, aber muskulöser Mann zum Barren ging und sich an den Holmen kurz konzentrierte. Die deutschen Fans saßen auf der Tribüne, und sie begannen sofort an zu schreien und zu klatschen. Marcel Nguyen vom TSV Unterhaching stand unüberhörbar bei der Turn-EM unmittelbar vor seiner Barren-Übung. 30 Minuten später war dieser Anfeuerungsapplaus nichts gegen den Lärm, der die Halle erfüllte. 7000 Fans schrieen und klatschten ohrenbetäubend. Und Marcel Nguyen stand ganz oben auf dem Siegerpodest. Er hatte Gold gewonnen. Er ist Europameister am Barren, völlig überraschend. Der erste deutsche Europameister an diesem Gerät seit 56 Jahren, seit Helmut Bantz.

Nguyen war der erste Turner des Finals an diesem Gerät. Der Barren ist seine Spezialität, er zeigt dort den Tsukahara als Abgang. Kein anderer Turner auf der Welt traut sich das zurzeit. Die große Frage lautete trotzdem: Wird es zu einer Medaille reichen?

Nguyen kam gut durch, musste allerdings bei einem Handstand nachdrücken. Den Tsukahara brachte er beim Abgang fast in den Stand, und die Kampfrichter bewerteten seinen Auftritt mit 15,525 Punkten. Würde das gut genug sein für eine Medaille? Und wenn ja, für welche? Nach drei Turnern lag der 23-Jährige immer noch auf Rang eins, allerdings kam jetzt als vierter Turner der Holländer Epke Zonderland. Und der bot ebenfalls einen guten Auftritt. Zuschauer, Sportler und Trainer warteten gespannt auf die Wertung: 15,300 Punkte. Nguyen blieb auf Platz eins.

Auch der Ukrainer Mykola Kuksenkow konnte ihn nicht von der Spitze verdrängen. Und irgendwann stand nur noch ein Athlet aus, die Spannung stieg enorm. Der Grieche Vasileios Tsolakidis wurde von den Zuschauern fair mit viel Applaus zum Barren begleitet, und Sekunden nach seinem Abgang schrieen und klatschten die Fans noch viel mehr. Sie mussten die Note gar nicht wissen, es war klar, dass Tsolakidis den Deutschen nicht überholt hatte.

Aber als dann alles offiziell wurde, als die Note auf der Anzeigentafel auftauchte, da steigerte sich der Applaus zum minutenlangen Aufschrei. Die Fans trampelten mit den Füßen, brüllten, klatschten, 15,075 Punkte für den Griechen. Marcel Nguyen war Europameister. „Das war bombig“, sagte Nguyen glücklich. „Eine Super-Übung, ich musste vorlegen, und die anderen mussten nachziehen. Das war gut für mich.“

Sein Trainer Valeri Belenki hob ihn in die Luft, dann klatschte ihn Chef-Bundestrainer Andreas Hirsch ab und fiel ihm um den Hals. Und dann stand Nguyen auf dem Podest und sah aus, als könnte er es noch gar nicht glauben. Besser hätte er nicht auf seinen nächsten Auftritt eingestimmt werden können. Er trat auch noch beim Reck-Finale an, zusammen mit Philipp Boy.

Gold für Marcel Nguyen, das ist die Geschichte eines ganz besonderen Erfolgs. „Vor wenigen Wochen waren wir noch gar nicht sicher, was der Marcel überhaupt bei der EM turnen kann. Er war doch überhaupt noch nicht fit“, sagte Belenki. Und Nguyen erklärte: „Wenn mir jemand vor zwei, drei Monaten gesagt hätte, dass ich bei der EM so gut turnen würde, dann hätte ich das nicht geglaubt.“

Vor zwei, drei Monaten war der Deutsche Mehrkampfmeister von 2010 noch ein ehemaliger Patient, der darum kämpfte, wieder auf sein altes Niveau zu kommen. Im September 2010 hatte er bei einem Länderkampf einen Wadenbeinbruch erlitten, bei dem sehr schwierigen dreifachen Tsukahara hatte er sich verletzt. Er fiel bis zum Jahresende aus. Ausgerechnet vor der Heim-EM in Berlin. Für Chef-Bundestrainer Andreas Hirsch war das ein harter Schlag. Denn Nguyen war in der Riege, die 2010 Mannschafts-Europameister geworden ist. Aber dieser Mann musste jetzt mühsam wieder Anschluss finden. Hirsch wollte den 23-Jährigen für den Mehrkampf bei der EM erst gar nicht nominieren. Nach einem letzten Leistungstest entschied er sich anders. Nguyen darf doch an alle Geräte. Dort belegte er den sechsten Platz. Er war einmal vom Reck gefallen, das kostete ihn eine Medaille. Schon im Mehrkampf wäre Edelmetall eine kleine Sensation gewesen.

Eine Medaille holte er sich jetzt am Barren. Und für ein paar Sekunden lang stand er im Mittelpunkt, nur er. In den Applaus der Zuschauer verkündete der Hallensprecher noch: „Union hat in der Zweiten Fußball-Bundesliga gerade 2:0 gewonnen.“ Schön für Union. In der Halle interessierte das nur keinen.

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