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Sport: Turnen bis zum Absturz

Nach Fabian Hambüchens Patzer am Reck wird bei der EM über die Wertungsvorschriften diskutiert

Die Wut stand Fabian Hambüchen ins Gesicht geschrieben. Krampfhaft hielt sich der kleine Turner aus Wetzlar an seiner riesigen Sporttasche fest. Es brodelte in ihm – dennoch bemühte er sich um einigermaßen vernünftige Sätze. „So ist das Leben, nicht perfekt“, sagte Hambüchen und quälte sich ein Lächeln ab. Er hätte das nicht sagen brauchen in diesem Moment. Es war ein Satz, der seine Sprachlosigkeit belegte.

Perfekt wäre gewesen, wenn der 18-Jährige im griechischen Volos seinen Europameistertitel am Reck verteidigt hätte. Nach einem Sturz im Qualifikationswettkampf hat er nicht einmal das morgige Finale erreicht. Ein weiterer Sturz am Ende seiner Bodenübung machte die Enttäuschung perfekt. Der K.o. am Reck wog aber schwerer. „Ich weiß nicht, was da passiert ist“, sagte Hambüchen, „beim ersten Flugteil war ich zu nahe an der Stange, die Übung wurde länger, länger, länger und für den Abgang war ich dann zu platt.“ Als der Titelverteidiger mit beiden Händen die Matte berührte, hielten die Zuschauer in der Halle im Nea Ionia Sport Complex die Luft an – der große Favorit war draußen.

Zwei Mal war Hambüchen am Ende der Übung die Kraft ausgegangen, und es wäre leicht für ihn gewesen, das auf die neuen Wertungsvorschriften zu schieben, die seit diesem Jahr gelten. Er tat es nicht. Sein Auftritt in Volos brachte es aber mit sich, dass die neuen Kriterien wieder heftig diskutiert wurden. Der Weltturnverband FIG hatte die 10,0 als Höchstnote abgeschafft und dafür eine Kombination aus A-Note (Schwierigkeit) und B-Note (Ausführung) eingeführt. Kern der Neuerung ist, dass die Wertung nun nach oben offen ist, weil die zehn höchstwertigen Teile einer Übung die A-Note bestimmen. Theoretisch können die Athleten nun so lange turnen, bis sie zehn schwere Teile zusammenhaben. Praktisch führt das dazu, dass die Athleten bis ans Ende ihrer Kräfte improvisieren, wenn die geplante Übung nicht perfekt läuft. Das kann gefährlich werden, sagen Kritiker. Erfolgversprechend ist es auch nicht immer, wie Hambüchens Absturz zeigt. Denn bei Fehlern wird in der Ausführungsnote gnadenlos abgezogen.

„Ich bin erst mal erleichtert, dass er sich nicht verletzt hat“, sagte Wolfgang Hambüchen, der Trainer und Vater des noch amtierenden Europameisters. „Es hat sich aber gezeigt, dass die neuen Vorschriften das Turnen in der Spitze noch riskanter machen.“ Hambüchen ist ein bekennender Kritiker des neuen Reglements. Er weiß aber auch, dass es nicht gut ankommt, das System zu kritisieren, wenn es bei seinem Schützling nicht gut gelaufen ist. Wenn die Übungen nicht planmäßig funktionieren, so sein Urteil, würden die Athleten am Ende Dinge riskieren, für die ihre Ausdauer eigentlich gar nicht mehr ausreicht. „Sicherer wird das Turnen dadurch nicht“, sagte Hambüchen, „aber das sage ich seit Monaten.“ Mehr Sicherheit und größere Ästhetik wollten die Erneuerer um den Weltverbandspräsidenten Bruno Grandi ihrer Sportart verordnen. Und größere Transparenz für die Zuschauer. Ob das funktioniert, ist während des ersten großen internationalen Wettbewerbs seit der Regeländerung strittig.

Chef-Bundestrainer Andreas Hirsch, auch nicht als Freund der Neuerung bekannt, sieht es pragmatisch: „Wir haben mehr Finals denn je erreicht, deshalb ist meine erste Bilanz positiv.“ Fabian Hambüchen (Sprung, Barren), Thomas Andergassen (Ringe), Robert Juckel und Eugen Spiridonov (beide Pauschenpferd) stehen in den Finals am Sonntag, die deutsche Mannschaft als Sechster im heute stattfindenden Teamfinale. Bei der EM im vergangenen Jahr hatte Hambüchens Reck-Gold alles überstrahlt, nur Andergassen (Pauschenpferd, Barren) hatte noch ein Gerätefinale erreicht. Ob mögliche Erfolge jetzt auch die Risiken des Wertungssystems überspielen können, ist noch offen.

Jürgen Roos[Volos]

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