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Grazile Seitenlage. Die nur 1,45 Meter große Simone Biles aus den USA beherrscht ihren Körper in der Luft genauso wie am Boden.

© AFP/Stansall

Turnen: Bolt? Phelps? Simone Biles!

Die 19-jährige US-Amerikanerin ist auf Anhieb eine der besten Turnerinnen der Olympia-Historie – auf Augenhöhe mit der Legende Nadia Comaneci. Weil sie ganz anders turnt als ihre Vorgängerinnen.

Von Christian Hönicke

Simone Biles nimmt ihre Goldmedaille in die Hand, dann zeigt sie mit dem Finger auf den Seitenrand. „Hier ist der Wettkampf eingraviert“, sagt Biles. Für die US-amerikanische Turnerin ist das eine nützliche Zusatzinformation. „So kann ich sie auseinanderhalten.“

Drei Goldmedaillen hat die 19-Jährige schon bei den Spielen in Rio gewonnen, am Montag kam am Schwebebalken trotz eines Fehlers noch eine bronzene hinzu. Manche nennen sie den weiblichen Michael Phelps, andere den weiblichen Usain Bolt. Sie kennt diese Vergleiche, ihre Antwort ist immer gleich. „Ich bin nicht der nächste Usain Bolt und auch nicht der nächste Michael Phelps“, sagt sie. „Ich bin die erste Simone Biles.“ Und das reicht ja eigentlich auch schon.

Biles wird auch mit Nadia Comaneci verglichen, die Rumänin gilt als beste Turnerin der Geschichte. Sie gewann 1976 und 1980 insgesamt fünfmal Olympiagold. Der Vergleich wird ihr schon eher gerecht, denn Biles kam Comanecis Bilanz schon bei ihren ersten Spielen nahe. Am Dienstag steht das Finale am Boden an, das könnte ihr viertes Gold geben. Biles wird dann ihr eigenes Element springen, „The Biles“. Es ist ein doppelter Salto plus Drehung, im Gegensatz zum deutschen Reckturner Andreas Bretschneider beherrscht sie ihr selbstkreiertes Kunststück auch im Wettkampf perfekt. Niemand außer ihr hat den Biles bisher geturnt, weil niemand die körperlichen Voraussetzungen dazu hat. Die 19-Jährige ist der komplette Gegenentwurf zu den schlanken, fast androgynen Turngrößen der Vergangenheit wie Comaneci, Boginskaja oder Chorkina. Biles ist nur 1,45 Meter groß, sie ist muskulös, wendig. Ist sie die perfekte Turnerin?

Simone Biles dominiert die Turnwelt seit drei Jahren, bei der WM 2013 wurde sie als 16-Jährige das erste Mal Weltmeisterin im Mehrkampf. Inzwischen hat sie zehnmal WM-Gold geholt, das ist Rekord. Wann immer Biles in Rio durch die Luft fliegt, schaut das Publikum gebannt zu, wenn sie traumhaft sicher landet, jubelt es frenetisch. „Alle hier wissen, dass Simone in ihrer eigenen Liga turnt“, sagt Alexandra Raisman, eine Kollegin im US-Turnteam. „Der eigentliche Gewinner ist, wer den zweiten Platz belegt.“

Doch sie ist mehr als eine außergewöhnlich talentierte Turnerin. Simone Biles ist ein Star dieser Spiele von Rio de Janeiro, weil sie das strahlende American-Girl-Lächeln hat, das sich gut vermarkten lässt. Wenn sie redet, ist das meiste „amazing“ und „exciting“. Und sie hat eine bewegte Geschichte, wie sie nicht nur die Amerikaner lieben.

Beide Elternteile waren drogenabhängig, ihre Mutter war mit den vier Kindern überfordert

Biles wurde 1997 in Columbus im US-Bundesstaat Ohio geboren. Beide Elternteile waren drogenabhängig, ihre Mutter war mit den vier Kindern überfordert. Als die kleine Simone drei Jahre alt war, entzog man Shanon Biles das Sorgerecht für ihre vier Kinder. Ihr Großvater Ron und seine Frau Nellie holten Simone und ihre kleine Schwester Adria nach Texas und adoptierten sie.

Shanon Biles ist mittlerweile 44 Jahre alt und nach eigener Aussage seit 2007 clean. Sie telefoniert sporadisch mit ihrer Tochter und feuert sie am Fernseher an. Sie wäre gern in Rio, sagt sie, aber sie wolle Simone nicht zusätzlich unter Druck setzen oder sie nervös machen. Für Simone ist sie nur ihre „biologische Mutter“. Wenn Simone Biles von „Mom“ und „Dad“ spricht, dann meint sie Nellie und Ron Biles. Beide sind in Rio bei jedem Wettkampf in der Halle, „sie unterstützen mich auf jede erdenkliche Weise“. Nellie Biles hat einmal erzählt, dass die kleine Simone schon als Kind sehr diszipliniert in ihrem Haus vorging und sich um die jüngere Schwester kümmerte. Sie hatte bei ihrer unzuverlässigen Mutter schon früh gelernt, dass sie auf sich selbst am besten aufpassen kann.

Grazile Seitenlage. Simone Biles.
Grazile Seitenlage. Simone Biles.

© AFP/Stansall

Ihrer Adoptiv-Mom am nächsten kommt Aimee Boorman. „Sie ist wie eine zweite Mutter für mich“, sagt Biles über die Frau, die sie seit ihrem siebten Lebensjahr trainiert. Die resolute Trainerin weiß, dass nach den Spielen von Rio ein neues Leben auf ihre Simone zukommen wird. In den USA ist das Biles-Fieber ausgebrochen, Einladungen in Fernsehshows stapeln sich. „Sie ist hier in einer Blase, sie weiß noch gar nicht, was auf sie zukommt, wenn sie wieder zu Hause ist“, sagt Boorman. Wirklich besorgt um ihre Ziehtochter ist sie nicht. Simone Biles mag eine bewegte Vergangenheit haben, aber sie ist eine starke Persönlichkeit, die sich nicht so leicht aus der Bahn werfen lässt. „Seit sie sehr klein war, ist sie ist eine Überlebenskünstlerin, eine Kämpferin“, sagt Nellie Biles. „Sie hat nie ein Training versäumt, selbst wenn sie krank war, blieb sie nicht zu Hause.“

Wenn Olympia vorbei ist, will Simone Biles aber erst einmal kürzer treten mit dem Turnen. Nach all den Entbehrungen will sie erst einmal „ein bisschen das Leben genießen“. Auf jeden Fall will sie nicht wie Oksana Tschussowitina werden, die in Rio mit 41 Jahren noch mitgeturnt ist. „Wenn man 30 ist, sollte man Kinder und Familie haben“, sagt sie mit fester Überzeugung. Aber in Tokio in vier Jahren kann man sie vielleicht noch einmal bewundern. Bis dahin hat sie noch genug mit den logistischen Herausforderungen zu kämpfen, die ihr ihre vielen Medaillen bescheren. „Ich habe mir mal die ersten beiden zusammen umgehängt, dabei habe ich sie sich zerkratzt“, sagt sie. „Das werde ich nie wieder tun.“

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