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Sport: Turnier der Leidenschaft

Die Europameisterschaft begeistert das Publikum mit Fußball von einer neuen Intensität

Aus England ist in diesen Tagen die Nachricht gekommen, dass eine Frau nach 23 Jahren Ehe die Scheidung von ihrem Mann eingereicht hat. Seit Jahren ist sie mit ihm zu allen Heim- und Auswärtsspielen seines Lieblingsvereins West Ham United gereist, doch als er sich jetzt zwei Wochen Urlaub genommen hat, um die Begegnungen der Europameisterschaft mit einem Freund in einer Kneipe zu verfolgen, hatte sie endgültig genug. Wie herzlos muss diese Frau sein?

Seit Jahrzehnten hat kein großes Fußballturnier die Menschen – unabhängig vom Abschneiden ihrer eigenen Nationalmannschaft – so sehr begeistert wie die EM in Portugal. Nur zwei Jahre nach der mäßigen WM in Japan und Südkorea, bei der es sogar die Deutschen bis ins Finale brachten, hat das spielerische und technische Niveau einen Aufschwung erlebt, den niemand erwarten konnte. Dem Defensiv- und dem Offensivfußball hat dieses Turnier eine dritte Kategorie hinzugefügt: den Leidenschaftsfußball.

Es ist wohl kein Zufall, dass vor allem Gastgeber Portugal stilbildend wirkt. Getrieben von den Erwartungen des Landes und gepeinigt von der Vorstellung, wieder zu früh zu scheitern, spielen die Portugiesen einen Fußball, der sich in keinem Moment um ökonomische Erwägungen schert. Im entscheidenden Spiel gegen Spanien rannten die Portugiesen, als gäbe es kein Morgen, kein nächstes Spiel, als gäbe es nicht einmal eine zweite Hälfte. Ob er den Gegner so schwach erwartet hatte, wurde Portugals Spielmacher Deco gefragt. „Wahrscheinlich hat Spanien Portugal nicht so stark erwartet“, antwortete er.

Schon vor zwei Jahren bei der Weltmeisterschaft hat sich der Gastgeber Südkorea durch Fußball mit Leidenschaft ausgezeichnet. Doch weil das Land keine typische Fußballnation ist, ist der Vorstoß ins Halbfinale mit etwas Befremden zur Kenntnis genommen worden. Der Erfolg der Südkoreaner galt eher als Ausdruck der spielerischen Minderwertigkeit des Turniers. Möglicherweise aber hat Südkorea damals einen Trend initiiert. Nun, bei dieser Europameisterschaft, ist der Leidenschaftsfußball endgültig zu einem Gegenmodell geworden zum Kontrollfußball der Deutschen.

„Ein bisschen mehr Liebe, bitte“, forderte die Fachzeitschrift „France Football“ Anfang der Woche von der französischen Equipe. Vergeblich. „Wir wissen, dass uns etwas fehlt“, hat Mittelfeldspieler Patrick Vieira nach den ersten beiden Gruppenspielen gesagt. Doch die Franzosen schafften es nicht, ihr Wissen in die Praxis umzusetzen. Mit ihrem reservierten Spiel scheiterten sie bereits im Viertelfinale an den Griechen. „Die Franzosen hatten oft die bessere Ballkontrolle“, bilanzierte Trainer Otto Rehhagel, „wir hatten die größere Leidenschaft.“ Die Griechen haben auch gezeigt, dass der Leidenschaftsfußball nicht nur eine Variante des Offensivfußballs ist. Man kann auch leidenschaftlich verteidigen.

Der Sieg der Leidenschaft wurde begünstigt durch eine ungewöhnliche Konstellation am Ende der Vorrunde. Bis auf Tschechien hatte sich vor den letzten Spielen keine Mannschaft für das Viertelfinale qualifiziert, und bis auf Russland und Bulgarien besaß jedes Team noch die Chance, weiterzukommen. So gab es am Ende der Gruppenphase gewissermaßen acht Achtelfinalspiele mit K.-o.-Charakter. In den 24 Gruppenspielen sind 64 Tore gefallen, das ist nur eines weniger als bei der EM vor vier Jahren und der bisher zweitbeste Schnitt seit 1980, seitdem die Europameisterschaft als Endrunde ausgetragen wird.

Nicht von ungefähr haben die Mannschaften den schwächsten Eindruck hinterlassen, die den am wenigsten leidenschaftlichen Fußball gespielt haben: Spanien, Italien, Deutschland, Favorit Frankreich und zuweilen auch England. Spanien versuchte gegen Portugal, sich mit einem Unentschieden ins Viertelfinale zu mogeln und wurde bestraft. Italien verspielte mit Trapattonischer Ängstlichkeit den 1:0-Vorsprung gegen Schweden und damit den Einzug ins Viertelfinale. England ging in zwei entscheidenden Spielen früh in Führung, verteidigte den Vorsprung anschließend beide Male mit aller Macht – und kassierte sowohl gegen Frankreich als auch gegen Portugal kurz vor Schluss den Gegentreffer.

Alle verhalten und kontrolliert spielenden Teams sind vorzeitig aus dem Turnier geschieden. Und anders als vor zwei Jahren bei der WM, als das frühe Aus der großen Fußballnationen Frankreich, Portugal, Argentinien und Italien auf die allgemeine Stimmung drückte und die WM zu einem Turnier zweiter Klasse degradierte, hat diesmal niemand das Gefühl, dass etwas Unrechtes geschehen ist. Vor allem die Deutschen nicht.

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