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Immer Arbeit mit den Reifen für Weltmeister Sebastian Vettel.

© picture alliance / dpa

Unberechenbare Reifen: Die Formel 1 wird zur Lotterie

Die Reifenfrage bewegt die Formel 1: Die unberechenbare schwarze Magie hat die Rennen derart im Griff, dass selbst die Sieger nicht immer wissen, weshalb sie gewonnen haben.

Von Christian Hönicke

Am Mittwoch saß Sebastian Vettel in Monte Carlo und schaute diabolisch zur anderen Hafenseite. „Man muss sich mal vorstellen, was passiert, wenn dir hier am Ende der Geraden hinunter zur Hafenschikane ein Reifen kaputtgeht“, sagte der Heppenheimer. „Das will niemand sehen.“ Vettel ist kein Mensch, der gern Katastrophenszenarien malt. Bekommt es der dreimalige Formel-1-Weltmeister am Steuer plötzlich mit der Angst zu tun? Höchstens mit der Angst vorm Verlieren. Sein apokalyptisches Szenario ist nur ein weiterer Versuch, die Reifenfrage in der Formel 1 zu seinen Gunsten zu entscheiden.

Reifen. Wenn man Paul Hembery den Tag ruinieren möchte, muss man nur dieses Wort fallen lassen. Das ist insofern erstaunlich, als Hembery als Motorsportdirektor für den Reifenhersteller Pirelli arbeitet. Die ganze Formel 1 regt sich derzeit über ihn auf. Hembery zuckt mit den Schultern und sagt: „Wir können es nicht allen recht machen.“

In dieser Saison muss er das öfter sagen, als ihm lieb ist. Vom positiven Werbeeffekt merkt er wenig, seine Firma muss stattdessen als Prügelknabe herhalten. Nach dem Rennen vor zwei Wochen in Barcelona hat Vettel das Produkt der Firma vor aller Welt als „Griff ins Klo“ bezeichnet. Dabei haben die Briten nur die Vorgaben umgesetzt, die der Automobil-Weltverband Fia ihnen gemacht hat.

Schon im vergangenen Jahr wurden auf Wunsch der Fia besonders zarte Reifen an den Start gebracht. Der Grundgedanke dahinter war, dass sich so die Zahl der Boxenstopps, der Strategien und damit die Spannung erhöht. In diesem Jahr ging der Lieferant noch einen Schritt weiter. Die Anzahl der Boxenstopps stieg noch einmal an, in Barcelona mussten die Piloten bis zu viermal stoppen. Die unberechenbare schwarze Magie hat die Rennen derart im Griff, dass selbst die Sieger nicht immer wissen, weshalb sie gewonnen haben.

Das glaubt jedenfalls der frühere Formel-1-Pilot Alexander Wurz. Der Österreicher arbeitete jahrelang als Reifentestpilot und befand bei „Sport 1“: Das Thema Reifen „ist so eine Extremwissenschaft, dass wir vielleicht nur zehn Prozent des ganzen Themas wirklich verstehen“. Keiner im Fahrerlager wisse es ganz genau, „nicht einmal die Reifentechniker. Wir sind weit weg davon, die Materie zu verstehen, obwohl sich die besten Ingenieure der Welt damit tagtäglich beschäftigen.“

"Bloß nicht zu schnell in den Kurven und schön vorsichtig fahren"

Und das ist das Kernproblem: Aus dem Technologierennen ist ein Lotteriespiel geworden. Bisher galt in der Formel 1 eine Faustregel: Je mehr Abtrieb, je stärker der Wagen also durch die Flügel auf die Straße gepresst wird, desto höher die Kurvengeschwindigkeit und desto sicherer der Sieg. Die neue Siegformel lautet: Bloß nicht zu schnell in den Kurven, schön vorsichtig fahren, um die Reifen nicht kaputtzumachen. „Das ist nicht die Idee hinterm Rennfahren, dass man aus Angst um die Reifen jemanden vorbeiwinken muss“, sagt Vettel. „Der Sport ist sehr technisch geworden mit diesen Reifen. Das ist, als wenn ein Skifahrer von einem Jahr aufs nächste mit Holz-Skiern fahren muss.“

Neben Red Bull schmelzen besonders Mercedes die neuen Reifen davon wie Eis in einem Kochtopf. Beide führen die Allianz der Revoluzzer an, die Umbauten an den Reifen fordern. Doch das ist laut Reglement nur mit Zustimmung aller Teams möglich. Obwohl selbst Fernando Alonso nach seinem Sieg in Barcelona die Reifen kritisierte, leidet sein Ferrari weniger als andere Wagen unter den Gummis. Gemeinsam mit den ebenfalls reifenschonenden Lotus und Force India bildet Ferrari die kleinere Koalition der Reaktionäre, die gern alles so lassen würden, wie es ist. „Beim Fußball wird das Tor auch nicht mitten in der Saison vergrößert“, sagt Lotus-Teamchef Eric Boullier.

So ist der Reifen zum Politikum geworden, zum womöglich wichtigsten Faktor in der WM. Das Titelrennen wird maßgeblich dadurch entschieden, wer Pirelli auf seine Seite ziehen kann. Einen kleinen Punktsieg haben die Revoluzzer nun erreicht, auch weil sie Formel-1-Boss Bernie Ecclestone als Mitstreiter auf ihrer Seite haben. Für das übernächste Rennen am 9. Juni in Montreal will Pirelli Änderungen vornehmen, dem Vernehmen nach sollen die Hinterreifen haltbarer gemacht werden. Das könnte auch ohne Zustimmung aller Teams mit Verweis auf Sicherheitsaspekte durchgehen, weil sich zuletzt einige Hinterreifen bedrohlich aufgelöst hatten. „Die Reifen bilden viele Klumpen, die gefährlich werden können“, sagt Vettel beschwörend. „Sie sind einfach nicht gut genug, und es kann nicht sicher sein, wenn sie sich auflösen.“ Fast alle Piloten würden so denken wie er: „Ich weiß doch, was die anderen in den Fahrertreffen sagen. Auch die Lotus-Fahrer beschweren sich, denn sie haben dasselbe Problem, nur zu einem geringeren Grad.“

Kimi Räikkönen würde gern weiter auf den alten Reifen herumrutschen. Der Finne mischt derzeit vorn in der WM mit, weil sein Lotus und sein Fahrstil mit den Reifen harmonieren. „Fair wäre es, alles so zu lassen“, sagt er. Und streut Verschwörungstheorien: „ Sie können die eine Sache ankündigen, aber etwas anderes machen.“ Eine Sache zumindest wird sich in der Formel 1 nie ändern: Am Ende wird auch über die neuen Reifen gestritten werden.

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