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© Pan-Asia

Sport: Und der König steht im Schatten

Mike Powell springt 1991 zum Weltrekord und besiegt den großen Carl Lewis

Am Samstag beginnen die Leichtathletik-Weltmeisterschaften in Berlin. Bis dahin widmen wir uns in unserer Serie den besonderen Momenten der Leichtathletik. Heute: das Weitsprung-Duell bei der WM 1991 zwischen Mike Powell und Carl Lewis. Powell sprang dabei Weltrekord.

Der Blick fixierte keinen bestimmten Punkt, er war nur starr, gerichtet ins Nirgendwo. Dann verzerrte Mike Powell den Mund zu einer Grimasse. Viermal blies er die Backen auf, viermal stieß er die Luft ruckartig heraus. Er ging drei Schritte, die Arme schlenkerten dabei, bis die Finger auf Kopfhöhe waren. Erst dann setzte dieser Körper eine ungeheure Energie frei. Powell sprintete los, beschleunigte, bei den letzten drei Schritten musste Powell etwas Geschwindigkeit herausnehmen, damit er nicht übertrat. Dann drückte er sich vom Weitsprung-Balken ab, schwebte mehr als zwei Meter über dem Boden und landete schließlich fast am Ende der Grube.

Im Stadion von Tokio, an diesem vorletzten Tag der WM 1991, hielten 70 000 Zuschauer den Atem an. Er war weit, sehr weit, dieser fünfte Versuch von Mike Powell, Olympiazweiter von 1988. Aber wie weit? Der Weltrekord von Bob Beamon stand seit 23 Jahren bei 8,90 Meter. Powell hüpfte aufgeregt und starrte auf die Anzeigentafel. Dann die Zahlen: 8,95 Meter, Weltrekord. Powell rannte los, die Arme ausgestreckt, als wollte er den Segen empfangen.

Ein historischer Moment. Millionen Menschen hatten gerade den Höhepunkt des spannendsten und hochklassigsten Weitsprung-Duells erlebt, das es jemals gegeben hatte.

Der Verlierer dieses Duells hieß für einen Moment Carl Lewis. Dieser Weltrekord traf ihn wie ein Faustschlag. Aber noch war er nicht am Boden zerstört. Erst ein paar Minuten später. Da stand fest, dass Mike Powell auch Weltmeister geworden ist. Dass Powell aber zittern musste bis zum Schluss, dass sein Weltrekord sofort wieder in Gefahr war, das alles gehörte zur einzigartigen Dramaturgie dieses Wettkampfs. Lewis gewann Silber – mit 8,87 Meter.

Dietmar Haaf war damals dabei, der Weitspringer aus Kornwestheim. Mit 8,25 Meter wurde er Vierter. „So etwas“, sagt er, „habe ich zuvor und danach nie mehr erlebt. Diese Atmosphäre, dieser Wettkampf: unglaublich.“

Eigentlich war ja alles als One-Man-Show gedacht. Carl Lewis, Carl der Große, wie er sich huldvoll nennen ließ, Carl Lewis wollte die ganz große Nummer liefern. Fünf Tage vor dem Finale war er Weltrekord über 100 Meter gelaufen, 9,86 Sekunden. Er hatte seit zehn Jahren im Weitsprung nicht mehr verloren, er kannte in Tokio nur einen Gegner: den Weltrekord von Bob Beamon. Der 30-Jährige wollte diese verdammte Marke knacken, die alle als „Jahrhundert-Weltrekord“ verehrten.

Er schwebte schon lange in eigenen Sphären. „Lewis war ein arroganter Schnösel“, sagt Haaf. Gegner waren für ihn Statisten, auch dieser Mike Powell aus seinem eigenen Team. 15 Mal war er gegen Powell angetreten, 15 Mal hatte er gewonnen, wo war das Problem? Lewis ahnte nicht, dass seine Arroganz sein Problem war. Powell hatte es satt, in Lewis’ Schatten zu stehen. Bei den US-Meisterschaften lag er nur einen Zentimeter hinter Lewis. „Da wusste ich, ich bin an ihm dran“, sagte Powell später. „Und beim nächsten Mal werde ich ihn kriegen.“

Die nächste Chance war Tokio. Der Abend des Finales. Es war warm, die Luftfeuchtigkeit lag bei 90 Prozent. „Der Boden war aufgeheizt“, sagt Haaf. „Die Bahn war ziemlich hart. Man konnte toll darauf laufen.“ Vor allem lag die Weitsprunganlage innerhalb der Bahn. Jeder konnte die Weitspringer gut sehen, das steigerte den Effekt der Dramaturgie.

Aber diese Dramaturgie beginnt unspektakulär. Lewis startet mit 8,68 Metern. Powell landet bei mageren 7,85 Metern. Nach dem dritten Versuch verbessert sich Powell auf 8,54 Meter, aber Lewis ist in seiner eigenen Liga. 8,83 Meter, mit zu viel Windunterstützung. Vierter Versuch: Lewis läuft mit seinen raumgreifenden Schritten an, drückt sich, fliegt und fliegt und landet bei – 8,91 Meter. Lewis reißt die Arme hoch, er fordert die Massen auf, ihm zu huldigen. Das ist der Moment, in dem er verloren hat. Denn Powell sieht diese Geste, seine ganze Wut auf die Arroganz des anderen konzentriert sich in einem riesigen Willensakt. „Ich dachte: Leute, wenn ihr denkt, das war weit“, sagte er später, „dann passt jetzt mal auf, ich zeig’s Euch.“ Das alles weiß Lewis nicht. Er hastet zum Balken zurück, ein Kampfrichter hatte die rote Fahne gehoben. Übergetreten. Lewis kniet, beschwört die Kampfrichter, vergeblich.

Fünfter Durchgang, Powell steht bereit. Atemlose Stille im Stadion. „Alle haben zum Weitsprung gestarrt“, sagt Haaf. Er selber nur mit einem Seitenblick, er musste sich auf seine Versuche konzentrieren. Dann Powells Weltrekord, das Stadion wird zum Hexenkessel. „Unbeschreiblich“, sagt Haaf. Lewis ist jetzt wütend wie ein angegriffener Stier. Jetzt hat der Weltrekord eine ganz andere Bedeutung. Er läuft an, sein fünfter Versuch. Er fliegt bis an die Weltrekordmarke. 8,87 Meter.

Die Spannung ist unerträglich. Der sechste Versuch von Powell, ungültig. Dann Lewis, seine letzte Chance. 8,84 Meter. Eine unglaubliche Serie. Aber sie reicht nicht. Mit starrem Gesicht gratuliert er Powell, der in seiner Freude mit einem verdutzen japanischen Kampfrichter ein Tänzchen vollführt. „Alle haben Powell diesen Sieg gegönnt“, sagt Haaf. Alle? Carl Lewis nicht. Carl Lewis sagte: „Er hat ja nur einen guten Sprung gehabt.“ Später, viel später, sollte er zugeben: „Es war die größte Niederlage meiner Karriere.“

Bisher erschienen: Jesse Owens 1936 in Berlin, Armin Harys Sprintrekord 1960, Ulrike Meyfarths Olympiasieg 1972, Ben Johnson und die Dopingfalle 1988. Morgen: Der zweite Weitsprung-Olympiasieg von Heike Drechsler 2000.

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