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Union trauert, RB feiert: Gefühlslagen beim 3:2 des Aufsteigers.

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Update

Union Berlin verliert 2:3 bei RB Leipzig: Union verliert im Kampf der Systeme

Beim 3:2 von RB Leipzig gegen den 1. FC Union protestieren die Gästefans vor und während des Spiels. Die Partie ist schon nach turbulenter Anfangsphase entschieden.

Grüner Rauch steigt hinter dem Tor auf. Ganz langsam erst und fein beginnt er zu strömen, wie Wasser, das zaghaft aus einer Quelle tritt. Überall auf der maroden Betontribüne wird gezündelt, irgendwann treten aus allen Richtungen Schwaden auf und kriechen gemeinsam, jetzt längst zu einem gewaltigen Fluss angewachsen, über den Rasen in Richtung Mittelkreis. Weil von der Gegenseite roter und weißer Rauch kommen, entsteht im Zentrum ein graues Nebelgemisch, das den Alfred-Kunze-Sportpark kurzzeitig verdunkelt. Unterstützend brennen Zuschauer bengalische Feuer ab und so ist am Sonntagvormittag gegen 11 Uhr eine Atmosphäre zu beobachten, wie es sie in deutschen Fußballstadien nur noch selten gibt.

Bengalische Feuer sind vom Deutschen Fußball-Bund (DFB) und der Deutschen Fußball-Liga (DFL) längst verboten, Rauchbomben sowieso. Interessiert aber niemanden bei diesem Spiel der Traditionsmannschaften von Chemie Leipzig und Union Berlin. DFB und DFL sind weit weg, organisiert wurde die Veranstaltung von Berliner und Leipziger Ultra-Fans. Der Eintritt kostet sechs Euro und soll dem Erhalt des Alfred-Kunze-Sportparks dienen, der dringend einer Renovierung bedarf. Auf den Treppen wächst Moos und an den Tribünen bröckelt der Beton. Mag das Stadion auch vergänglich sein, die Ideale derer, die sich hier eingefunden haben, sind es nicht. „Union und Chemie, Tradition stirbt nie“, brüllt der Stadionsprecher, dann geht es los.

Traditionsspiel als Protest

Tradition ist so ein Begriff, der an diesem grauen, vernieselten Morgen allgegenwärtig durchs Stadion flirrt. Fußballkultur auch. Die rund 4000 Zuschauer, die Hälfte darunter aus Berlin, haben eine ziemlich genaue Vorstellung davon, was für sie Tradition und Fußballkultur ausmacht. Sie alle sind der Meinung, dass beides in Leipzig gerade verschwindet. Schuld daran ist in ihren Augen ein österreichischer Getränkegigant, der in der Stadt ein ehrgeiziges Fußballprojekt namens RB Leipzig betreibt. Ihr Vorwurf lautet: RB ist ein rein zu Marketingzwecken ins Leben gerufenes Kunstobjekt. Eine Litfasssäule in Form eines Fußballvereins mit unlauteren Wettbewerbsvorteilen aufgrund des finanzkräftigen Sponsors. Das Traditionsspiel ist auch eine Form des Protests.

Die alten Leipziger Rivalen des 1. FC Union aus DDR-Zeiten, Chemie und Lok, sind längst in der Bedeutungslosigkeit versickert. RB, offiziell Rasenball, spielt dagegen mittlerweile in der Zweiten Liga und empfängt am Nachmittag den 1. FC Union zum Kampf der Systeme. Auf der einen Seite der Konzernklub, nach Auffassung vieler Fans das Synonym für Kommerz, Ausverkauf und Fremdbestimmung. Auf der anderen die Berliner Traditionalisten.

45 Minuten Schweigen

Vor dem Hinspiel hatten die Fans des 1. FC Union schwarze Plastikmüllsäcke in ihrem Stadion verteilt, sie sollten den „Tod der Fankultur“ symbolisieren. Der Protest im Rückspiel ist zuerst ein stiller. Einige Berliner Fans lassen sich absichtlich Zeit auf dem rund fünf Kilometer langen Weg vom Alfred-Kunze-Sportpark zur neuen modernen Arena, die dort steht, wo sich früher einmal das riesige Zentralstadion befand. Sie kommen erst zur zweiten Halbzeit. Die anderen, die schon da sind, schweigen größtenteils in den ersten 45 Minuten.

Sie sehen vor dem Anpfiff einen höchst engagierten Stadionsprecher, der noch einmal Werbung für die von ihm genannten „Flüstertüten“ macht. Das sind Papptüten in der Form von Mini-Megaphonen, die für zusätzliche Lautstärke sorgen sollen. „Eine richtig geile Marketingaktion, wie ich finde“, sagt der Stadionsprecher, bevor er beim Verlesen der eigenen Mannschaftsaufstellung wie Rumpelstielzchen durch die Gegend hüpft und mit ausladenden Handbewegungen versucht, das Leipziger Publikum zu animieren. Weil das 43.000 Zuschauer fassende Stadion mit 24.728 Fans nur etwas mehr als zur Hälfte gefüllt ist, verlieren sich seine Versuche im weiten Rund und verhallen durch das offene Stadiondach.

Vogelwilde Anfangsphase

Mehr Jubel beim Publikum verursachen die Leipziger Tore – und davon fallen in der ersten Halbzeit gleich drei. Dominik Kaiser, Joshua Kimmich und Georg Teigl treffen für die Gastgeber, Steven Skrzybski und Sebastian Polter für Union in einer vogelwilden Anfangsphase, in der sich der Berliner Angreifer Sören Brandy schwer an der Hand verletzt und früh ausgewechselt werden muss. Die mitgereisten Berliner beenden nach den Toren kurzzeitig ihr Schweigen und stimmen ein paar Schmähgesänge auf den Gegner an. Nach der Pause tut sich auf dem Rasen lange nichts, es geht hin und her und am Ende siegt Leipzig 3:2.

Mehr Bewegung gibt es im Berliner Fanblock. Unions Fans sind zur zweiten Halbzeit komplett, einige wenige Chemie-Anhänger sind mit ihnen gekommen, um sie zu unterstützen. Gemeinsam singen sie gegen RB an, das Lautstärkenverhältnis im Stadion ist recht ausgeglichen. Es werden auch Spruchbänder enthüllt. „RB, ein Verein für Mitläufer“, finden die Berliner und entrollen auch noch Plakate mit deutlich schlimmeren Bezeichnungen für RB-Fans. Auch Anhänger anderer Vereinen in dieser Saison gegen RB protestiert. Der Klub könnte sich kaum eine bessere Werbung wünschen.

Die Ablehnung der Traditionalisten generiert dem Konzernklub stets Aufmerksamkeit in der Öffentlichkeit. Im Kampf der Systeme gewinnen immer öfter die Leipziger. Nicht nur auf dem Rasen.

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