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Vom Steckwurf bis zum großen Wurf. Die richtige Technik braucht seine Zeit.

©  Kitty Kleist-Heinrich

Unser Zehnkampf vor der Leichtathletik-EM: Jagen und sammeln mit dem Speer

Speerwerfen liegt den Menschen in den Genen – oder etwa nicht? Unser Autor hat es ausprobiert.

Laufen, springen, werfen - die Disziplinen der Leichtathletik sind Sport in seiner klassischsten Form. Doch sie sind schwieriger auszuüben, als sie aussehen. Bis zur Europameisterschaft vom 7. bis 12. August in Berlin probieren wir in unserer Serie "Tagesspiegel-Zehnkampf" zehn Disziplinen unter professioneller Anleitung aus und beschreiben, worauf es bei den einzelnen Disziplinen ankommt.

Es gibt so Tage. Im Büro. Und es gibt Leute, die einem, obgleich sie einen noch nie gesehen haben, nach so einem Tag ansehen, dass er eher unentspannt war. Steffen Reumann zum Beispiel: "Setz Dich hin, komm erstmal runter", sagt der bärig-bärtige Mitfünfziger mit ruhiger Stimme. Er zieht an seiner Zigarette, macht in aller Ruhe weiter Trainings-Nachbesprechung mit einer Gruppe von sechs, sieben jungen Leichtathletinnen – und ignoriert mich erstmal komplett. Dabei bin ich spät dran, zehn Minuten nach sechs und damit zehn Minuten nach der Zeit, zu der wir in der Wurfhalle am Sportforum Hohenschönhausen eigentlich verabredet waren.

Hier her gehetzt bin ich, weil Steffen Reumann, der sich nur kurz mit Vornamen vorstellt, mir eine Speerwurfausbildung im Schnelldurchlauf verpassen soll. Ich habe ein paar Sachen dabei. Ein schwarzes Basecap zum Beispiel. Einer der bekanntesten deutschen Speerwerfer der letzten Jahrzehnte, Boris Henry, trug schließlich auch immer eines, mit Schirm nach hinten. Auch im Gepäck: meine weiße Sporthose eines nicht ganz streifenfreien Markenherstellers, die mir Onkel Uli irgendwann in den Achtzigern aus dem Westen mitgebracht hat. Damals mein ganzer Stolz, ist sie heute das älteste Kleidungsstück in meinem Besitz. Unverwüstlich, nur mit ein paar Flecken, die kein erlaubtes Mittel mehr rausbekommt.

300 000 Jahre alte Wurfwaffen

Man braucht solche Accessoires, wenn man sonst nicht viel zu bieten hat. Und ich habe eben nicht viel zu bieten, etwa was Oberarmumfang, Bauchmuskelschicht oder Schulterbreite angeht. Ahnung habe ich auch keine, tröste mich aber, während Steffen in aller Ruhe seine Jungathletinnen verabschiedet, damit, dass Menschen schon sehr lange Speere werfen. Von Homo heidelbergensis etwa hat man 300 000 Jahre alte solche Wurfwaffen gefunden. Der älteste Fußball ist jünger.

Speerwerfen liegt uns also sicher in den Genen, das spüre ich, und es kann auch als wissenschaftlich plausibel gelten. Denn in der menschlichen Evolution dürften die, die gut Speere werfen konnten, einen Vorteil gehabt haben: Wer als Jäger traf, hatte am ehesten abends etwas auf dem Spieß, wer als Krieger auch noch weit werfen konnte, verringerte die Wahrscheinlichkeit, seinerseits vom gegnerischen Wurfgerät getroffen zu werden. Gute Speerwerfer waren hochanerkannte Mitglieder der Horde, wurden geehrt und mit Höhlenmalereien verewigt, sie hatten es sicher auch bei den Damen leicht...

Plötzlich reißt mich das Wort "Männerumkleide" aus meinen Gedanken. Da schickt Steffen mich hin. Es riecht dort nicht ganz so herb wie erwartet, aber die Pheromone der starken Männer wie etwa Robert und Christoph Harting, die im "Wurfhaus Berlin" trainieren, hängen doch irgendwie in der Luft. Als ich dort wieder raus bin, geht es los. Der Speer. 800 Gramm, 2,70 Meter, Alu oder Karbon, ein bisschen anders tariert als zu Zeiten, als ein gewisser Uwe Hohn ihn in Berlin auf fast 105 Meter schleuderte. Er ist jetzt so tariert, damit er eben das nicht mehr macht.

Keine Sorge, denke ich mir, als ich das höre. Und darf ihn jetzt flach auf der neben das rechte Ohr getellerten Hand balancieren, dann so auch ein paar Schritte gehen. Er fällt nicht runter. Mein erstes Erfolgserlebnis. Dann ihn an der Wickelung festhalten – aber nicht einfach so, sondern Zeigefinger nach hinten – mit dem Speer laufen. Neben dem Kopf, schön parallel zur Laufrichtung, Spitze leicht nach unten zeigend... oder nach oben? Ich weiß es schon nicht mehr. Es geht alles so schnell. Schon folgt ein erster "Steckwurf", beidhändig über dem Kopf. Wenn ich Steffen glaube, habe ich jetzt mit der Speerwurf-Zeitmaschine schon ein paar Jahre hinter mir – und alles mögliche Grundlagentraining von Kraft- und Koordinationsübungen bis Schlagballweitwurf weggelassen.

Nun gehen wir endlich nach draußen. Zum Speerwurf-Anlauf. Auf den Rasen. Mit jenen beidhändigen Steckwürfen, die eher nach unten zielen. Dann sogar "the real thing": Mensch wirft einarmig Speer. Gerät in die Hand, über die Schulter, Handgelenk eindrehen, werfen. So gehen wir Platz auf, Platz ab. Es hat etwas Meditatives. Nicht umsonst gehört "Wirf den Speer, folge ihm, und wirf ihn erneut", zu den 68 Regeln der Kriegskunst des Sunzi, also: zumindest könnte es gut dazu gehören. Ich werfe einhändig, versuche irgendwie die Kombination all der Winkel, die beim Abwurf entscheidend sind, zu verstehen. Aber irgendetwas geht schief, was man unter anderem daran merkt, dass der Speer sehr schief fliegt und schief steckenbleibt. Und Steffen mich schief anguckt. "Also zurück", sagt er, "Steckwürfe". Ich muss also wieder beidhändig aus dem Stehen über dem Kopf "falschen Einwurf" üben. Das ist so in etwa die Höchststrafe. Ich versuche, mich zusammenzunehmen. Vielleicht hilft es ja, das bekloppte Boris-Henry-Basecap wegzuschmeißen. Und sich zu konzentrieren. Was mir überraschenderweise jetzt viel leichter fällt als vor ein paar Stunden im Büro.

Der Speer fliegt eine gefühlte Ewigkeit

Am Ende der eine Wurf, den wir dann auch messen wollen, so er denn vom Athleten regelgerecht ausgeführt wird und steckenbleibt. Ich soll "alles einfach natürlich" machen. Es geht nun wie von selbst: Geschwindigkeit aufnehmen, Speerrücknahme (also nach hinten mit dem Ding), dann noch drei Schritte, links-rechts-links, Abwurf mit aller Kraft. Die Waffe löst sich von meiner Hand, ich komme kurz vor der Linie auf dem rechten Bein hüpfend zum Stehen, alle Winkel habe ich optimal erwischt, der Speer schwingt vor Wucht durch, steigt, segelt schließlich. Als ich den Blick wieder hebe, nachdem der Impuls der Wurfbewegung mich fast einen Purzelbaum hat machen lassen, hat er schon den Zenit erreicht. Dann, nach einer gefühlten Ewigkeit, steckt er im Rasen. 98,52 Meter. Weltrekord...

...Was man so alles träumen kann in der knappen Sekunde, die der tatsächliche Wurf, den ich zustande bringe, dauert. Steffen schreitet die Strecke bis zu dem Punkt, wo der Speer wirklich steckt, ab, ruft: "21 Meter, nicht schlecht." Wahrscheinlich sind es eher 19, denn Steffen hat, weil er ein Motivator ist, sicher keine richtigen Meterschritte gemacht. So oder so werde ich trotz dieses Profitrainings an keiner Europameisterschaft mehr teilnehmen. "Kann ich den unter Vertrag nehmen?" fragt Steffen allerdings, als er zum Abschied meinem vierjährigen Sohn einen alten Schlagball schenkt, der so aussieht, als ob schon Betty Heidler und Robert Harting einst ihr frühes Wurftraining mit ihm absolvierten. Mehr Nachwuchs jedenfalls würde er sich schon wünschen für die vielleicht älteste Sportart der Welt und die anderen Wurfdisziplinen. Von ersterer weiß ich seit heute, dass sie wirklich Spaß macht und uns tatsächlich irgendwie im Blut liegt.

Entspannt und mit Lust auf mehr laufen wir zur Straßenbahn. Abends im Kinderzimmer werfen wir uns noch den alten Ball zu. Das leichte Ziehen in der rechten Brustmuskulatur stellt sich – neben anderen Beschwerden, die nichts mit Speerwerfen zu tun haben – erst am nächsten Tag im Büro ein.

Bisher erschienen: Dreisprung (20. Juli), Hürdenlauf (24. Juli), Kugelstoßen (26. Juli), Gehen (28. Juli), 100-Meter-Lauf (30. Juli), Staffellauf (31. Juli), Diskuswurf (1. August), Hochsprung (3. August).

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