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UNSERE Experten: Stimmung auf Knopfdruck

Nun bin ich mal gespannt, wie sich das sogenannte WM-Fieber weiter entwickeln wird. Anders als vor vier Jahren wurde es diesmal beschlossen und quasi per Knopfdruck angeknipst: „So, nun wieder Fieber.

Nun bin ich mal gespannt, wie sich das sogenannte WM-Fieber weiter entwickeln wird. Anders als vor vier Jahren wurde es diesmal beschlossen und quasi per Knopfdruck angeknipst: „So, nun wieder Fieber. Wie 2006.“ Das ist eines der großen atmosphärischen Probleme dieser WM: Es entsteht keine authentische Stimmung mehr. Wir sehen keine Stadien voller Fans, sondern Stadien voller Touristen. Bei den Bildern von den Tribünen sehne ich mich manchmal nach einem normalen Menschen, der normal aussieht, vielleicht eine schlichte Jacke trägt und den Anschein macht, er wolle dort unten einfach nur ein Fußballspiel anschauen.

Ich bekomme stattdessen: Menschen mit angemalten Gesichtern, Plastiktröten und bunten Perücken, deren Lebenshöhepunkt nach dem Eingeblendetwerden auf der Videowand erkennbar hinter ihnen liegt.

Mittlerweile wird Stimmung nur noch reproduziert und dann punktgenau abgerufen, wenn beispielsweise ein Fernsehsender zu einer „Public-Viewing-Party“ hinüberschaltet. Wir sehen auf dem Monitor im Hintergrund tumb vor sich hin stierende Menschen, solange der Moderator im Studio noch redet. Gibt er aber rüber zum Reporter vor Ort, geht – Schnipp! – das Gegröle los, und die Menschen mit den Gesichts-Tattoos, die sie möglicherweise aus den Sechserpackungen eines probiotischen Joghurtgetränks haben, drehen völlig enthemmt durch. Bis der Reporter („Man kann hier wirklich sein eigenes Wort nicht mehr verstehen, es ist un-glaub-lich!“) ins Studio zurückgibt. Danach wird wieder vor sich hingestiert, vermutlich.

Uns ist jegliche Verhältnismäßigkeit abhandengekommen. Und zwar, weil sich ein Großteil der in Medien sichtbaren WM-Fans aus Menschen rekrutiert, die genau genommen Fan spielen. Sie kleiden sich, wie man es aus dem Fernsehen kennt. Sie eignen sich fanspezifische Verhaltensweisen an. Sie lassen die Sau raus. Das ginge auch auf dem Oktoberfest, auf Mallorca oder beim Jahreswechsel, aber nun ist halt gerade WM. Letzte Woche gab es in meiner Straße gar den schüchternen Versuch eines Autokorsos. Nach einem 1:0 gegen Ghana im dritten Gruppenspiel! Hallo?! Was machen solche Menschen im übrigen Leben, wenn, sagen wir, die Fußgängerampel endlich grün wird? Einen Klinsmann-Diver?

Das Produkt WM hat hart und erfolgreich an seiner Austauschbarkeit gearbeitet. Seit der WM 2006 kennen wir den Begriff „Ticketing“ und wissen, dass der Besitz eines WM-Tickets unbedingt erstrebenswert ist, glücklich macht, und wahrscheinlich auch glattere Haut. Einer meiner Kollegen hatte damals mehrere Tage lang damit angegeben, WM-Tickets ergattert zu haben, ehe wir durch Zufall herausfanden, dass es Tickets für das Spiel Ukraine gegen Saudi-Arabien waren.

Arnd Zeigler ist Moderator und kommentiert im Wechsel mit Marcel Reif, Philipp Köster, Michael Oenning und Fredi Bobic die WM.

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