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Sport: Urlaub von der Bundesliga

Von Erik Eggers Leverkusen. Wann hat dieser Mensch wohl das letzte Mal geschlafen?

Von Erik Eggers

Leverkusen. Wann hat dieser Mensch wohl das letzte Mal geschlafen? Die 0:1-Niederlage in Nürnberg ist Reiner Calmund ganz offenkundig in den Körper gekrochen. Wie ein Wesen von einer anderen Welt wirkt der Manager von Bayer Leverkusen am Montag, zwei Tage nach dem Desaster. Manchmal rutscht er hin und her auf seinem Stuhl, dann versinkt er in seinem massigen Leib. Mit letzter Kraft versucht Calmund, der Pressekonferenz vor dem heutigen Rückspiel im Halbfinale um die Champions League gegen Manchester United (20.45 Uhr, live auf Premiere World) zu folgen. Wie schwer ihm dabei die Konzentration fällt, demonstriert das hypernervöse Spiel mit dem Kugelschreiber, vor allem aber das beängstigend blutarme Äußere. Das Gesicht so erschreckend bleich, dass es sich kaum abhebt von dem hellen Hintergrund. Die roten Augen verengt zu kleinen Sehschlitzen, um sich vor den eigentlich nicht wattstarken Scheinwerfern zu schützen. Als Häufchen Elend bezeichnet man normalerweise solche Gestalten. Calmund ist ein ganzer Haufen.

Den Symptomen nach schreit dieser Körper nach Freizeit. Nach Urlaub von der deprimierenden Entwicklung in der Bundesliga, in der die beruhigenden fünf Punkte Vorsprung in den letzten beiden Spielen eingedampft wurden, nach Urlaub von diesem fiesen Unterhaching-Syndrom, das ihnen alle andichten wollen. Auch die Spieler, die bereits um die 60 Einsätze in Bundesliga, Pokal und Europapokal hinter sich haben, sind gezeichnet von dem Druck, in der Bundesliga ständig gewinnen zu müssen. Und so sind alle froh in Leverkusen, dass nun mit dem Spiel gegen Manchester eine fast angenehme Freizeitbeschäftigung auf sie wartet. Wenn auch eine auf höchstem Niveau.

Hat die Mannschaft nicht immer ihre besten Leistung gezeigt, wenn keiner es von ihr erwartet hatte? Vor dem furiosen Sieg gegen Juventus Turin belegten die Leverkusener den letzten Platz in der Gruppe, vor dem entscheidenden Spiel bei Deportivo La Coruña zweifelten alle wegen der Auswärtsschwäche, vor dem fantastischen Rückspiel gegen den FC Liverpool schien es gar unmöglich, überhaupt ein Tor zu erzielen. Und auch vor dem 2:2-Remis beim Hinspiel in Old Trafford wartete im Grunde jeder auf eine desaströse Niederlage. Immer jedoch verblüffte Bayer mit einem fulminanten Angriffsfußball, den – weil er nicht nur schön, sondern auch erfolgreich ist - viele Experten für stilbildend halten. „Wir haben ganz Fußball-Europa mit unserem Spiel entzückt“, sagt Trainer Klaus Toppmöller, und seine Augen funkeln dabei.

Worin liegt der tiefere Grund für diese bemerkenswerten Leistungsexplosionen? Darin, dass es sich bei den Spielen in der Champions League um Ornte handelte, um Spiele, die nahezu Freizeitcharakter hatten? Jetzt ergibt sich eine neue Situation, denn erstmals kann Leverkusen die nationale Meisterschaft nicht mehr aus eigener Kraft gewinnen. Und so spricht auch Toppmöller nicht mehr davon, dass die Champions League nur schmückendes Beiwerk des eigentlichen Plans Deutsche Meisterschaft sei: „Wir haben es in der Hand. Wenn wir ins Finale kommen, würde ein Traum wahr werden." Über die Aufstellung mag er nicht reden, verweist nur auf den „fraglichen Einsatz“ Michael Ballacks, der an einem Bluterguss leidet, sowie auf kleinere Verletzungen bei Nowotny und Neuville. Sonst noch Fragen?

Möglicherweise hilft es den Leverkusenern, dass die Öffentlichkeit nach der letzten Niederlage keine Kübel von Spott über sie ausgoss. Das massenhafte, als Zuspruch verkleidete Kopfschütteln „hilft uns nach dem Schockzustand", meint Toppmöller. Mitleid aber, findet hingegen Manager Calmund, „ist das Schlechteste, was du kriegen kannst". Ihm sind Titel lieber. Ob Leverkusen deswegen nun kurzfristig die Saisonziele neu definiert? Konzentriert sich die Mannschaft nun auf die Spiele in den Pokalwettbewerben, Spiele, die sie noch selbst entscheiden kann? „Das mit den Prioritäten haken wir ab“, sagt Calmund . Nach all dem, was Leverkusen bislang in der Champions League hingezuckert hat, wird der Wettbewerb wohl auch heute bleiben, was er bisher war: motivationsstiftende Freizeit.

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