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Was hab' ich nur getan?! Novak Djokovic fasst sich an den Kopf, nachdem er eine Linienrichterin mit einem Ball getroffen hat.

© Seth Wenig/AP/dpa

US Open - Novak Djokovic und die Disqualifikation: Sich selbst die Tour versaut

Bei der Jagd nach Titeln macht Djokovic nicht immer eine glückliche Figur - wie nun in New York, als er eine Linienrichterin und damit auch sich selbst trifft.

Novak Djokovic war fünf Jahre alt, als er zu seiner ersten Übungsstunde mit Trainerin Jelena Gencic kam. Der kleine Nole trug eine viel zu große Tennistasche über der Schulter, in der sich alles befand, was ein Spieler so braucht: Handtuch, Schläger, Schweißbänder, eine Wasserflasche und sogar Bananen. Als Gencic ihren Schützling fragte, ob seine Mutter das alles eingepackt hätte, sagte der: „Nein, ich habe das selbst hineingetan. Schließlich weiß ich, was man braucht. Ich habe das bei den Profis im Fernsehen gesehen.“

Djokovic wurde selbst zum Profi, zum Besten seiner Zunft. Und bis zum Sonntagabend gab es wenig Zweifel daran, dass er seinen bereits 17 Grand-Slam-Titeln bei den US Open in New York einen weiteren hinzufügen würde. Doch in seinem Achtelfinale gegen den Spanier Pablo Carreno Busta verlor der Serbe für einen kurzen Moment den Fokus. Und daran wird sich Novak Djokovic wohl ein Leben lang erinnern. Nachdem er ein Break zum 5:6 im ersten Satz kassiert hatte, schlug er den Ball mit dem Schläger wütend nach hinten weg – und traf eine Linienrichterin am Hals.

Es folgten bange Minuten, die Linienrichterin atmete schwer, ehe sie sich endlich wieder aufrappelte. Djokovic wollte sofort helfen, der Schreck war ihm ins Gesicht geschrieben. Nie und nimmer hatte er das gewollt. Aber, ob Absicht oder nicht war in diesem Falle unerheblich.

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Djokovic wurde disqualifiziert, das Preisgeld von 250.000 US-Dollar für das Erreichen der vierte Runde muss er zurückzahlen und nicht einmal die erspielten Weltranglistenpunkte für das Turnier darf er behalten. So steht es in den Regeln.

Djokovic flüchtete eine Stunde nach dem Vorfall ohne Kommentar von der Anlage in Flushing Meadows, die Pressekonferenz ließ er sausen. Wenig später äußerte er sich über die Sozialen Medien: „Die ganze Sache macht mich traurig und leer… So unabsichtlich. So falsch… Ich muss jetzt in mich gehen und meine Enttäuschung verarbeiten und das als Lektion für meine Entwicklung als Spieler und Mensch sehen… Es tut mir so leid.“

Fehler passieren und Menschen, die wie Djokovic in der Öffentlichkeit stehen, werden sie stets und ständig unter die Nase gehalten. In diesem Falle dürfte ihm die Häme von vielen Menschen in aller Welt einigermaßen egal sein, sportlich wiegt das Ganze schwerer.

Der 33-Jährige war in diesem, vom Coronavirus diktierten Jahr noch ungeschlagen. Nach dem Sieg bei den Australian Open Anfang des Jahres trauten ihm viele Experten sogar den Grand Slam zu. Doch dann ruhte der Spielbetrieb, Wimbledon wurde abgesagt, die French Open verschoben.

Als die Infektionszahlen in seiner Heimat zurückgingen, initiierte Djokovic die Adria Tour, eine Serie von kleinen Tennisturnieren mit Stars wie Dominic Thiem, Alexander Zverev und natürlich ihm selbst. Das Ganze wurde zum Desaster, weil die Hygieneregeln weitgehend ignoriert wurden.

Djokovic infizierte sich wie auch seine Frau und andere Spieler mit dem Coronavirus und musste sich fortan rechtfertigen. Sogar von den US Open war die Veranstaltung auf dem Balkan vom Juni immer noch ein Thema.

In einem Interview mit der New York Times verblüffte Djokovic mit den Aussagen: "Wenn ich die Gelegenheit hätte, die Adria Tour noch einmal zu machen, würde ich es wieder tun.“ Und: „Ich denke nicht, dass ich etwas Schlechtes getan habe.“

Das, was er nun am Sonntag in seinem Spiel gegen Carrano Busta gemacht hat, wird er sicher nie wieder tun wollen. Tatsächlich passieren solche Dinge. Der Kanadier Denis Shapovalov, eigentlich als nächster Gegner von Djokovic in New York ausgemacht, wurde 2017 im Davis Cup disqualifiziert, nachdem er dem Stuhlschiedsrichter einen Ball ins Gesicht geschossen hatte – auch hier unabsichtlich.

Und es gibt noch viel tragischere Fälle. Der legendäre Stefan Edberg beispielsweise traf im US-Open-Turnier der Junioren 1983 einen Linienrichter mit einem Aufschlag so unglücklich an der Hüfte, dass der stürzte und an den dabei erlittenen Kopfverletzungen verstarb.

Es wäre nicht überraschend, wenn Djokovic schon in wenigen Wochen bei den French Open wieder zu sportlicher Höchstform aufläuft

Die Zeiten damals waren andere, ein ähnlicher Vorfall heute würde einen Spieler vermutlich die Karriere kosten. Weil die Öffentlichkeit eine andere ist. Und die ist im aktuellen Fall von Djokovic mit Urteilen schnell zur Hand: Die Aktion wäre typisch für ihn. Roger Federer oder Rafael Nadal wäre so etwas nie passiert. Djokovic sei einfach kein echter Champion. Das alles und mehr war Minuten nach der Disqualifikation schon bei Twitter zu lesen.

Es bleibt die ewige Krux des Serben, dass er stets mit Federer und Nadal verglichen wird, die weltweit verehrt werden und deren Beliebtheitswerte er nicht erreichen kann. Bei seiner Jagd nach Titeln und Anerkennung macht Djokovic nicht immer eine glückliche Figur, er wirkt mitunter verbissen und wenig authentisch - und trifft zuweilen eigenwillige Entscheidungen. Erst unmittelbar vor den US Open gründete er beispielsweise eine neue Spielergewerkschaft. Federer, Nadal und andere Profis äußerten ihren Unmut darüber, doch ein Djokovic lässt sich nicht so leicht beirren.

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Wenn der Serbe etwas will, dann schafft er es in der Regel auch. Das erfordert enorme Willensstärke, die er auf dem Tennisplatz schon so oft bewiesen hat. Im Finale von Wimbledon spielte er vor einem Jahr nicht nur gegen Roger Federer, sondern fast gegen das komplette Publikum. Am Ende setzte sich Djokovic durch.

Und dass er nach Rückschlägen wiederkommen kann, hat er ebenfalls bewiesen. Nach halbjähriger Verletzungspause im Jahr 2017 hat er seit Wimbledon 2018 fünf von sieben Grand-Slam-Turnieren gewonnen.

Es wäre deswegen nicht überraschend, wenn Djokovic nach dem Debakel von New York schon in wenigen Wochen in Paris bei den French Open wieder zu sportlicher Höchstform auflaufen würde. Tennisprofis gewinnen ihre Spiele eben nicht nur mit ihrem Racket, sie gewinnen sie vor allem mit dem Kopf.

In dieser Hinsicht ist Novak Djokovic ein Meister seines Fachs und wird alles daransetzen, um sich künftig bestmöglich im Griff zu haben. Auch, damit seinem kleinen Sohn solche Fernsehbilder wie die vom Sonntag erspart bleiben. Stefan Djokovic ist fünf Jahre alt.

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