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Ging auch in gelb. Uwe Seeler im DFB-Trikot.

© Imago/Horstmüller

Uwe Seeler wird 80: Der Hinterkopf der Nation

Andere mögen der Kopf des Spiels gewesen sein – er war der Hinterkopf. Andere wurden berühmt – er wurde zum Idol. Am Samstag feiert Uwe Seeler Geburtstag. Eine Würdigung.

Uwe Seeler besitzt den gefährlichsten Hinterkopf der Welt. Der Mann hat kistenweise Rasierwasser leergepfiffen und verfügt über einen Spitznamen, der die Grundlagen der deutschen Grammatik außer Kraft setzt. Alles bekannt und tausendmal erzählt vor seinem 80. Geburtstag, den er an diesem Samstag daheim in Hamburg feiert. Aber wer weiß schon, dass Uwe Seeler auch am Falkland-Krieg schuld ist?

Ein englisches „Was wäre passiert, wenn…“-Buch hat diese Geschichte rekonstruiert, sie beginnt bei der Weltmeisterschaft 1970 in Mexiko und geht so: England wähnte sich als Fußball-Weltmacht Nummer eins, besser noch als vier Jahre zuvor beim WM-Triumph von Wembley, und die Nation erwartete wie selbstverständlich ein Dacapo. Daraus wurde bekanntlich nichts. Zwar spielten die Engländer im Viertelfinale von Leon die Deutschen eine gute Stunde lang an die Wand, sie lagen völlig verdient 2:0 in Führung und steckten auch Franz Beckenbauers Anschlusstor lächelnd weg.

Der siegessichere Trainer Alf Ramsey nahm den großen Bobby Charlton vom Platz, um ihn für das Halbfinale zu schonen, aber kurz vor Schluss machte Seeler das 2:2 und seinen Hinterkopf berühmt. Deutschland gewann in der Verlängerung und stürzte die englische Nation in eine weit über den Fußball hinausgehende Krise. Fünf Tage später verlor Labour-Premier Harold Wilson völlig überraschend die Neuwahlen, die er wegen der zuvor großartigen Stimmung im Land selbst angesetzt hatte. Das Vereinigte Königreich trudelte in ein turbulentes und politisch instabiles Jahrzehnt, an dessen Ende 1979 die Wahl von Margaret Thatcher stand. Und wer anders als die Iron Lady hätte drei Jahre später schon den Mut gehabt, einen Krieg vom Zaun zu brechen, nur weil am anderen Ende der Welt argentinische Truppen auf einer öden Inselgruppe im Südatlantik landeten?

Alles wegen Uwe Seelers Hinterkopf.

Das Tor von Mexiko ist ihm bis heute das liebste seiner geschätzt tausend, die genaue Zahl ist unbekannt. Seeler selbst hat nicht mitgezählt und allwissende Datenbanken gab es zwischen den Fünfziger- und Siebzigerjahren noch nicht. Der Mittelstürmer Uwe Seeler ist in einer anderen Zeit und mit einem anderen Fußball groß geworden. In einer Ära, in der es sich für deutsche Idole nicht gehörte, ins Ausland zu gehen. 1961 wollte ihn Inter Mailands Trainer Helenio Herrera, ein Argentinier, auf den die Erfindung des Catenaccio zurückgeht, die kompromisslose Verhinderung von Fußball zugunsten des Resultats. Damit hätte Seeler noch leben können, auch mit dem Handgeld, immerhin eine Million D-Mark, eine für damalige Verhältnisse unvorstellbar hohe Summe.

Eine Million D-Mark hätte er als Handgeld verdienen können - er blieb lieber in Hamburg

Den Verlust Hamburgs aber hätte er nicht verwinden können, und wie hätte er das seiner Familie erklären sollen? Dem Vater Erwin, groß geworden im Arbeitersport und später ebenso im Trikot des Hamburger SV aktiv wie der ältere (und früh verstorbene) Bruder Dieter, mit dem der junge Uwe 1960 zum ersten und einzigen Mal Deutscher Meister wurde. Und was hätte er schon einer moralischen Instanz wie Helmut Thielicke entgegnen sollen? Thielicke, in den tausend braunen Jahren von den Nazis drangsaliert und später Begründer der theologischen Fakultät der Universität Hamburg, mahnte Seeler in einem offenen Brief: „Sie stehen jetzt vor der Frage, ob Sie eine noch größere Chance nutzen wollen: Der Jugend unseres Volkes ein Leitbild für die Lauterkeit der Gesinnung und für den Ernst des sportlichen Spiels zu werden. Uwe, Hamburg braucht dich!“

Bis heute ein Vorbild an Bescheidenheit, Anstand und Fairness. Happy Birthday, lieber Uwe Seeler.

schreibt NutzerIn InspectorBarneby

Also sagte Seeler den schwerreichen Italienern ab. Mit dem schönen Argument: „Ich bin Hamburger, kein Wandervogel“, worauf ihn der entgeisterte Herrera öffentlich für verrückt erklärte. Zum Dank ernannte ihn Hamburg zum Ehrenbürger und adoptierte ihn bis in alle Ewigkeiten als größten aller Söhne der Stadt. Die höchste Wertschätzung findet ihren Ausdruck in jenem Spitznamen, der nur außerhalb Hamburgs grammatikalische Irritation provoziert. „Uns Uwe“ steht hanseatisch verkürzt für „unser Uwe“, so einfach ist das.

Fast schon eine Ikone. Uwe Seeler hat 72 Länderspiele bestritten und dabei 43 Tore erzielt. Für den HSV traf er in 476 Bundesligaspielen insgesamt 404mal.
Fast schon eine Ikone. Uwe Seeler hat 72 Länderspiele bestritten und dabei 43 Tore erzielt. Für den HSV traf er in 476 Bundesligaspielen insgesamt 404mal.

© dpa

Und was die finanzielle Seite betrifft: Den Verzicht auf die Mailänder Million kompensierte der Hamburger Senat symbolisch mit einem verbilligten Grundstück, dazu übernahm Seeler die Repräsentanz der Firma mit den berühmtesten drei Streifen der Welt und verdiente sich ein bisschen was dazu mit Fernsehspots, in denen er sein Rasierwasser leerpfiff. Und hat damit wahrscheinlich alles richtig gemacht.

Ein Auslandsprofi Uwe Seeler wäre wohl berühmt geworden. Berühmt wie sein Zeitgenosse Karl-Heinz Schnellinger, der 1970 in Mexiko die Flanke auf Seelers Hinterkopf hatte segeln lassen. Berühmt wie viele Jahre nach ihm Günter Netzer, Jürgen Klinsmann oder Lothar Matthäus. Berühmt, aber eben kein Idol. Später hat er sich bei seinem HSV als Präsident versucht, aber da waren die Zeiten schon anders und Seeler passte mit seiner Elf-Freunde-Mentalität nicht mehr hinein. Die Präsidentschaft war ein Missverständnis und endete 1998 vorzeitig nach drei Jahren. Der HSV hat es ihm nicht nur verziehen, er hat es ihm nicht einmal nachgetragen.

Nun wäre es zu klein gedacht, Uwe Seeler allein als Hamburger Lokalgröße zu definieren. Der Mann hat sein Bundesverdienstkreuz nicht allein für „ein Leben im Strafraum“ (Seeler über Seeler) bekommen. Es gibt eine Fotografie von Uwe Seeler aus dem Sommer 1966. Die deutsche Nationalmannschaft hat gerade das Finale um die Weltmeisterschaft verloren, durch ein Tor, von dem heute auch der damalige Sieger England zugibt, dass es keines war. Auf diesem Bild, es wird später zum deutschen Sportfoto des Jahrhunderts gewählt, verlässt der deutsche Kapitän Seeler den Platz, flankiert von einem Polizisten und einem Musikanten, der gerade in seine Tuba bläst. Seeler senkt den Kopf, erschöpft und traurig, aber keineswegs wütend auf eine vermeintliche Verschwörung. Die Deutschen nehmen die Niederlage sportlich und das imponiert auch den Engländern.

Wembley 1966 markiert einen Wendepunkt. Die Deutschen werden nicht mehr nur als blutrünstige Krieger betrachtet, sie können auch aufrichtig und anständig verlieren. Auch dafür steht Uwe Seeler, und zählt das nicht mehr als tausend Tore, eins davon mit dem gefährlichsten Hinterkopf der Welt?

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