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Vor dem Finale in der Champions League: Der FC Bayern und die Vollendung der Schöpfung

Mit dem Finale gegen Borussia Dortmund in der Champions League hat der FC Bayern München eine Entwicklung abgeschlossen. Und dann? Was kann überhaupt noch besser werden? Das fragt sich nicht nur Pep Guardiola. Ein Essay.

Wie soll es nach dem großen Endspiel in der Champions League zwischen Bayern München und Borussia Dortmund bloß weitergehen? Was kann danach noch kommen? Dass Deutschland Ende Mai in den USA gegen Ecuador spielt, tröstet die allerwenigsten.

Auch Pep Guardiola nicht, der sich die Frage nach der Zeit danach wohl am dringlichsten stellt. Ob er, Rat und Ruhe suchend, vor dem Anpfiff noch ein paar Zeilen Kant liest? „Die Schöpfung ist niemals vollendet“, schrieb sein erklärter Lieblingsphilosoph. „Sie hat zwar einmal angefangen. Aber sie wird niemals aufhören.“ Mal sehen, ob der alte Kant wieder einmal Recht behält. Guardiola muss es hoffen. Denn sollte der FC Bayern sich am kommenden Sonnabend vollenden – wer braucht dann eigentlich noch ihn?

Wann die Schöpfung des FC Bayern angefangen hat, kann man so genau nicht sagen. Etwa schon 1900, bei seiner Gründung im Restaurant „Gisela“ zu Schwabing? 1965, mit dem Aufstieg in die Bundesliga? Oder doch erst 1979, als Uli Hoeneß Manager wurde? Jedenfalls schien sie tatsächlich nie aufzuhören, war kein Erfolg je groß genug, um den Titelhunger dieses Monsters von einem Fußballverein zu stillen. „Immer weiter, immer weiter“, sagte einer, von dem anzunehmen ist, dass Pep Guardiola ihn nicht ganz so oft rezipiert wie Kant, der aber immerhin fast so heißt: Kahn.

Oliver Kahn, heute ZDF-Gebrauchsphilosoph und einstmals der Ehrgeizigste unter all den Ehrgeizigen, die die Münchener in ihren Reihen hatten, der nur unter Druck existieren zu können schien, der Gegnern in den Hals biss, Eckfahnen als Phallus benutzte. Getrieben war Kahn, getrieben waren auch Hoeneß, Breitner, Matthäus, Effenberg, eine Ahnenlinie der Getriebenen, getrieben war der ganze Verein. Konkurrenten schlossen auf und fielen ab im Laufe der Spielzeiten, Gladbach, der Hamburger SV, Werder Bremen, Leverkusen. Aber es ging dem FC Bayern ja ohnehin immer nur um eines: allein zu sein an der Spitze. Seine eigenen Rekorde zu brechen. Besser zu sein als er selbst.

Mit Pep Guardiola als neuem Trainer wollte der Verein nun eigentlich die nächste Evolutionsstufe erklimmen. Unter seiner Anleitung sollte die Mannschaft zu Europas bester reifen. Doch nun ist sie, seltsam plötzlich, nach Jahrzehnten des „immer weiter, immer weiter“ im Begriff, das sagenhafte Ziel wirklich zu erreichen: eine nahezu perfekte Saison zu spielen. Besser zu sein als alle anderen, ja: als sie selbst. Die Schöpfung zu vollenden. Und Pep Guardiola müsste es tatenlos mitansehen. Würde sich Notizen machen in sein ledergebundenes Büchlein, Pfeile malen, Namen einkreisen und sich mit wachsender Verzweiflung fragen: Was, zum Fußballteufel, kann man da noch besser machen? Antwort, zitterig geschrieben, letzte Seite: „Nada.“ Nichts.

Im Sommer 2012 trat Guardiola als Trainer des FC Barcelona zurück, weil sich auch dort nichts mehr zu verbessern lassen schien. 100 Prozent Schönheit, 100 Prozent Erfolg. 14 Trophäen in vier Jahren, 2009 sogar das nie dagewesene „Sextuple“, bestehend aus allen sechs möglichen Titeln: der spanischen Meisterschaft, dem spanischen Pokal, dem spanischen Supercup, der Champions League, dem Uefa-Supercup und der Klubweltmeisterschaft. Man blinzelte ungläubig in Richtung dieser gleißenden Mannschaft um Messi, Iniesta und Xavi: Möglicherweise war Guardiola, der Schüler Johan Cruyffs, der Perfektion näher gekommen als alle Trainer vor ihm. Aber so sind diese Trainer nun mal: Sie suchen die Perfektion, aber eigentlich wollen sie sie niemals finden. Denn das Maximale ist nicht mehr steigerbar. Schlimmer noch: Es wird irgendwann langweilig.

Dortmund wird nicht Bayerns einziger Finalgegner sein

Denn was begehrt man noch, wenn man alles hat? Guardiola ist kein Besitzstandswahrer. Er zog sich nach New York zurück, hielt innere Anschauung, las Kant – und entschied sich im Winter schließlich für ein Engagement in München. Drei Monate später schlug der FC Bayern den FC Barcelona im Halbfinale mit 4:0 und 3:0, Guardiolas alte Mannschaft. Ein Wachwechsel. Und nun soll die Herausforderung, der er sich gestellt hat, womöglich darin bestehen, doch wieder den Champions-League-Titel zu verteidigen? Wie soll er die Zukunft noch gestalten, wenn sie schon zur Gegenwart geworden ist? Man möchte ihm nicht die Loyalität zu seinem künftigen Arbeitgeber absprechen – aber es wäre doch allzu menschlich, würde er dem BVB in diesem Spiel die Daumen drücken. Er wird es sich natürlich verbieten.

Vielleicht geht die Geschichte des FC Bayern an diesem Maiabend in Wembley aber auch einfach zu Ende, und Pep Guardiola übernimmt gar nicht den Verein, wie wir ihn kennen. Es ist, aus Altersgründen, das vorletzte Spiel des Trainers Jupp Heynckes, es ist vielleicht sogar, aus steuerlichen Gründen, das vorletzte Spiel des Präsidenten Uli Hoeneß. Und auch das Epos von einer Mannschaft, die das „Finale dahoam“ verlor, die man für gebrochen hielt und die sich dann doch erhob zu ungekannter Stärke, mit Bastian Schweinsteiger als granithartem Anführer, es wird auserzählt sein. Schweinsteiger war es, der den letzten Elfmeter gegen den FC Chelsea verschoss.

Pfosten! Das Geräusch klingt einem bis heute in den Ohren. Es war ungerecht, eine geradezu sadistische Zumutung des Schicksals. Ein Trauma, das nur durch sofortige Revanche zu heilen war. Und so bahnten sich die Bayern mit ehrfurchtgebietender Zielstrebigkeit ihren Weg durch Bundesliga, Pokal und Champions League. Wie Reinhold Messner auf dem Weg zum Südpol, wie Eddy Merckx auf dem Weg über den Col de Champs.

Als der FC Chelsea vor ein paar Tagen das Finale der Europa League gegen Benfica Lissabon gewann, auf ähnlich perfide Art und mit den gleichen archaischen Mitteln wie damals in München, mit einem Kopfballtor kurz vor Schluss, da ahnte man: Hätte er es an diesem Tag mit dem FC Bayern zu tun gehabt, wäre er wahrscheinlich mit 0:6 vom Platz gefegt worden. Borussia Dortmund wird nicht der einzige Gegner sein im Finale von Wembley, dem der FC Bayern sich gegenüber sieht: Da stehen eben auch dieser FC Chelsea, da steht Inter Mailand, gegen das er das Endspiel 2010 verlor, da steht immer noch Manchester United, der FC Porto, Aston Villa. Da stehen alle, die jemals die Unverschämtheit besaßen, besser zu sein als er.

Gegen diese Überzahl wird er anrennen. Mit einem solchen Furor, dass selbst die Bundesligaspiele gegen den BVB sich dagegen ausnehmen wie Freundschaftsspiele zweier E-Jugenden. Auch für den neutralen Betrachter ist eine Steigerung dieser Intensität kaum noch denkbar. Achtung: Möglicherweise explodieren am Samstag sämtliche Fernsehgeräte, die in deutschen Wohnzimmern stehen. Schwer vorstellbar, wie wir uns danach wieder für den Bundesligaalltag begeistern sollen, für den ersten, zweiten, dritten Spieltag, wenn die Tabelle aussieht, als wären die Ränge ausgelost worden. Wie Sportdirektor Matthias Sammer, ohne lachen zu müssen, vor einer Heimniederlage gegen Eintracht Braunschweig warnt. Und welche Ziele der neue Trainer Pep Guardiola ausruft. Wird er je das profane Wort „Herbstmeisterschaft“ über die Lippen bringen? Doch all das nun beiseite. Der Herbst ist noch fern. Freuen wir uns auf dieses Endspiel, auf die Vollendung der Schöpfung oder auf ihr bombastisches Scheitern. Wünschen wir auch Pep Guardiola einen schönen Fernsehabend: Denken Sie dran, Señor, wenn alle um Sie herum jubeln, und Ihnen selbst zum Heulen zumute ist: „Die Einsamkeit ist schrecklich, aber auf erhabene Art.“ Kant hat das gesagt. Aber das wissen Sie ja bestimmt.

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