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Von wegen Underground. England ist wieder ganz weit oben.

© Reuters.

Vor dem WM-Halbfinale gegen Kroatien: Wie der Fußball England wiedervereint

Die Regierung in London kriselt, der Brexit hat die Gesellschaft gespalten, aber auf dem Platz läuft es für England bei der WM.

Einfach großartig: So hat es Tom Nicholson ziemlich gut auf den Punkt gebracht. Nach dem Viertelfinalsieg gegen Schweden am Samstag feierte der Sportjournalist in London, als ein Reporter der Channel-4-News in London auf ihn zukam. Wie es sich anfühlt, fragte der Journalist, dass England zum ersten Mal seit 1990 im Halbfinale steht? „Einfach großartig,“ sagte Nicholson. „Pickford war großartig, Henderson war großartig. Es war einfach alles großartig. Ich meine, es ist großartig. Es ist einfach großartig.“ Am Ende, als ihm plötzlich klar war, wie blöd er klang, drehte er sich in die Kamera und sagte es voller Überzeugung ein letztes Mal: „Es ist großartig.“

Nicholson ist nicht der einzige England-Fan, der in diesen Tagen ein bisschen sprachlos wirkt. So gut wie keiner hat vor einem Monat mit einer so erfolgreichen WM in Russland gerechnet. Für alle, die unter 30 sind, ist diese Erfahrung etwas vollkommen Neues. Für alle anderen ist es auch sehr ungewohnt. Bei vielen Engländern hat man das Gefühl, die wissen einfach nicht, was sie in so einer Situation tun sollen.

Manche haben es auch übertrieben. In Ostlondon stürmte eine Gruppe England-Fans eine Ikea-Filiale, um den Sieg über Schweden zu feiern. Andere Feierlichkeiten eskalierten, wie die Gruppe England-Fans, die in der Nähe von Borough Market auf einem Krankenwagen getanzt haben, dessen Fahrer im Einsatz war. In der südwestlichen Grafschaft Dorset beschwerte sich die Polizei, Fußballfans hätten einen Polizei-Schäferhund aggressiv angepöbelt, „weil er deutsch war“.

"It's coming home". Das singen und sagen alle. Nach der Skepsis des Frühsommers kam der vorsichtige Optimismus der Gruppenphase. Darauf folgte der Schock des Erfolgs im Elfmeterschießen gegen Kolumbien, und jetzt drehen alle einfach fröhlich durch. England wird Weltmeister, keiner zweifelt mehr daran.

Das Delirium ist auch eine Art Erlösung. In den letzten zwei Jahren war die gesellschaftliche Stimmung auf der Insel alles andere als fröhlich. Menschen, die sich jetzt in Pubs vor Freude in den Armen fallen, hatten seit dem Brexit gelernt, sich gegenseitig zu misstrauen. Der Luxus, die blöde Politik zumindest für ein Paar Wochen vergessen zu können, ist für eine zerrissene Gesellschaft zweifellos eine willkommene Ablenkung. Dass die Regierung von Theresa May am Montag ausgerechnet zwei Tage vor dem WM-Halbfinale zusammenbrach, wirkte irgendwie passend. Der ganze Druck, der sich über zwei Jahre aufgebaut hatte, war plötzlich weg. Stattdessen herrscht jetzt, in Ikea sowie im Parlament, pures Chaos.

Und sie haben einen Trainer, der alle Klischees über den englischen Fußball löscht

In erster Linie geht es hier alles aber nicht um Politik, sondern um Fußball. Um eine Fußballmannschaft, die so sympathisch ist, dass sie auch den zynischsten England-Skeptiker zum Lächeln bringt. Sie hat Harry Kane, den dicken Jungen aus Nordlondon, aus dem ein Weltstürmer gewachsen ist. Sie hat Jordan Pickford, den stirnrunzelnden Torwart aus dem Nordosten, der als zu klein galt, bevor er im Elfmeterschießen zum Nationalhelden wurde. Sie hat Jesse Lingard und Dele Alli, Techniker aus der alten Schule, die aber auch für die bunte Vielfalt der modernen Nation stehen sollen. Sie hat Harry Maguire, den ruppige Schrank mit dem großen Vorderkopf. Einen wie ihn hatte jeder damals als Klassenkamerad.

Und sie hat einen Trainer, der alle Klischees über den englischen Fußball löschen will. Der mit akribischer, professioneller Arbeit gezeigt hat, dass sich der Erfolg auf Wissenschaft stützen muss. Der eine Sportpsychologin anstellen ließ, um den Elfmeterfluch zu besiegen, und der in den letzten zwei Jahren diese Mannschaft Stück für Stück für aufgebaut hat. Als er zum Nationaltrainer ernannt wurde, waren viele enttäuscht. Jetzt wollen sie ihn zum Ritter schlagen, zum Sir Gareth Southgate.

Von seiner Arbeit und seiner Art könnten viele in Großbritannien etwas lernen. Der englische Fußball wird sowieso die richtigen Lehren aus diesem WM-Erfolg ziehen, denn er ist auch eine Belohnung für die langsichtige und durchdachte Arbeit des Verbands. Aber für den Moment denkt keiner in England über Lehren oder Politik. Für den Moment denken alle nur an Kroatien, an die Träume vom zweiten WM-Titel. Für den Moment denken alle so wie Tom Nicholson: Es ist einfach nur großartig.

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