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 Trotz Ausscheiden in der Vorrunde feiern die albanische Fans den Sieg gegen Gruppengener Rumänien als großen Erfolg.

© imago/GEPA pictures

Wales, Albanien, Island und Co.: Die Underdogs verschönern die EM

Dieses Jahr gewann Außenseiter Leicester City die Premier League. Auch die EM steht im Zeichen der Underdogs. Sie bereichern den Fußball, denn wer will ständig Groß gegen Groß sehen?

Island, Wales, Nordirland, Albanien – noch nie gab es so viele Underdogs bei einem Turnier, und noch nie waren sie so beliebt wie bei dieser EM. Weil sie für etwas stehen, das dem modernen Fußball verloren gegangen ist. Es gehört zu den angenehmen Seiten des Journalistenberufs, dass man relativ häufig in der Weltgeschichte herumtingelt und dabei mitunter an schönen und außergewöhnlichen Geschichten teilhaben kann.

Als sich im Frühsommer die größte Sensation der jüngeren Fußballgeschichte anbahnte, und das ausgerechnet in Leicester in den grauen East Midlands in England, besuchte ich für einige Tage dieses doch recht überschaubare Städtchen, um zu sehen, was es mit den Menschen vor Ort macht, wenn ihr Grauer-Maus-Verein sich plötzlich aufschwingt, die Premier League zu gewinnen, allen Gesetzmäßigkeiten des Geschäfts zum Trotz. In Leicester traf ich auf Menschen zwischen Euphorie und Ungläubigkeit, die mir im Lichte der sich anbahnenden Sensation mit einer Wärme begegneten, die ich selten erlebt habe.

Erst nach zehn Jahren stieg Leicester City wieder in die Premier League auf und holte völlig überraschend die Meisterschaft 2016.
Erst nach zehn Jahren stieg Leicester City wieder in die Premier League auf und holte völlig überraschend die Meisterschaft 2016.

© imago/i Images

Leicester City nach dem Aufstieg in die Premier League gleich Meister

Einer, ein junger, stämmiger Kerl namens Liam, der ansonsten nicht unbedingt den Eindruck machte, als begegne er der Welt und ihren Eigenarten sonderlich emotional, rang in unserem Gespräch beständig um Fassung, erklärte, ohne zu erklären, malte Gesten in die Luft, als könne er die Sensation so zu fassen bekommen, gleich mehrmals versagte ihm dabei die Stimme. „Das ist nicht nur Fußball. Das ist alles“, sagte er schließlich. „Das ist die ganze Welt. Das sind die 99 und das eine Prozent. Die Kleinen, die sich gegen die Großen auflehnen. Für uns alle.“

Bereits in den Wochen vor der sensationellen Meisterschaft ließ sich ein interessantes Phänomen beobachten: Menschen aus der ganzen Welt, die absolut keinerlei Verbindung zum an sich eher glanzlosen Klub Leicester City hatten, freuten sich mit dem Underdog über dessen Schnippchen, das er den Großen zu schlagen sich anschickte und schließlich auch schlug. Man konnte in dieser überbordenden Anteilnahme etwas sehen, wenn man wollte: Eine Reaktion von Fußballfans und –interessierten auf die Vorhersehbarkeit der Dinge im Weltfußball. Eine Reaktion, die bei der Europameisterschaft ihre Fortsetzung findet.

Die Außenseiter Island, Wales und Co. berührten unsere Herzen

Selten war eine Europameisterschaft derart geprägt von ihren Underdogs. Gerade erst haben sich die Isländer aus dem Turnier verabschiedet, deren Spieler mit den Tränen kämpfend vor ihrer weiß-blauen Kurve standen und traurig und stolz zugleich ihren Schlachtruf „Huh!“ riefen, und die sich in ein paar Tagen vielleicht damit über ihr Aus hinwegtrösten können, dass es von Sympathiebekundungen aus aller Welt begleitet wurde. Mit den Nordiren war zuvor ein anderes Überraschungsteam sensationell ins Achtelfinale eingezogen, deren feierwütige Fans dem Turnier mit „Will Grigg’s on fire“ einen wunderbar blödeligen Soundtrack verpasst hatten und – ebenso wie die Iren – zu den lautesten, lustigsten, besten Fans des Turniers gehörten.

Die Albaner mussten bereits nach der Vorrunde den Heimweg antreten, in Tirana wurden sie trotzdem wie Volkshelden empfangen, weil sie sich insgesamt sehr achtbar aus der Affäre gezogen und Gruppengegner Rumänien sogar geschlagen hatten. Der Jubelsprint des Siegtorschützen Armando Sadiku gehört zu den einprägsamsten Bildern der Europameisterschaft, ebenso wie das Versinken des ungarischen Stürmers Adam Szalai in einem Meer aus Armen in der Fankurve, als er ein Tor erzielt hatte, mit dem niemand, wahrscheinlich nicht mal er selbst, gerechnet hatte.

David gegen Goliath - Die Außenseiter Wales, Island, Albanien und Nordirland behaupteten sich gegen die ganz Großen.
David gegen Goliath - Die Außenseiter Wales, Island, Albanien und Nordirland behaupteten sich gegen die ganz Großen.

© imago/Le Pictorium

All diese Bilder und Geschichten werden den Zuschauern eher im Gedächtnis bleiben als Cristiano Ronaldos Freistoß-Folklore oder Antoine Griezmanns Kopfballtreffer. Vielleicht werden sie sogar dauerhafter sein als ein jubelnder Bastian Schweinsteiger, der, sollte es so kommen, in ein paar Tagen den Pokal in die Höhe reckt. Weil sie die Zuschauer daran erinnern, was diesen Sport früher einmal so einzigartig gemacht hat: Dass man niemals wusste, wie das Spiel ausgeht. Dass jeder jeden schlagen kann. Dass dieser Sport nicht vorhersehbar ist.

Mit der Finanzkraft kommen die Stars

Nur ist er leider genau das geworden. Im Jahr für Jahr stattfindenden Schaulaufen der immer gleichen Superklubs in der Champions League ist spätestens ab dem Viertelfinale kein Platz mehr für Überraschungsteams. Unter der grotesken Überfinanzierung der Königsklassen-Teilnehmer haben sich die großen nationalen Ligen in eine unliebsame Pflicht für die Topvereine verwandelt, die meistens, man schaue nur mal nach München, bereits im Herbst entschieden scheint. Weil mit der Finanzkraft natürlich auch die Stars kommen.

Immer mal wieder fordert der eine oder andere Funktionär eine europäische Superliga oder Setzlisten für die Champions League, damit die Großen noch exklusiver unter sich sind. Faktisch sind sie das aber schon, vor allem in der Art, wie sie die nationalen Ligen dominieren.

Bayern München wurde gerade zum vierten Mal in Folge Meister, Paris St. Germain ebenso, mit 31 Punkten Vorsprung. Beide Teams werden auch nächstes Jahr Meister werden, außerdem Juventus in Italien und Barca oder Real in Spanien. Leicester Citys Meistertitel ist ein Fehler in der Matrix. Und er wird sich kaum wiederholen.

Island gegen Wales wäre das Traumfinale gewesen

Auch bei der Europameisterschaft nicht. Mit Wales hat zumindest einer jener Underdogs, so man daran glauben möchte, noch Chancen, tatsächlich den Titel zu gewinnen. Wahrscheinlich ist es nicht. Die Chance darauf ist außerdem zumindest in Teilen das Ergebnis der eigentümlichen Verteilung der Teams im Turnierbaum. Und dennoch werden wohl sehr viele Menschen auf der Welt den Walisern die Daumen drücken. Wer will schon Cristiano Ronaldo die nächste Trophäe stemmen sehen? Oder Toni Kroos? Wer hat noch Lust auf das ständige Groß gegen Groß? Ist man nicht langsam satt von den immergleichen Siegern? Wäre nicht Island gegen Wales das eigentliche Finale gewesen? Das Finale einer EM, die ohne ihre Underdogs nur eine verkleidete Champions League gewesen wäre?

Begeisterung bis in die letzte Minute. Die Fans der Isländer feuern ihre Mannschaft trotz Rückstand gegen Frankreich bis zum Schluss an.
Begeisterung bis in die letzte Minute. Die Fans der Isländer feuern ihre Mannschaft trotz Rückstand gegen Frankreich bis zum Schluss an.

© epa/ Licovski

Liam, der Fan aus Leicester, ist übrigens vor ein paar Jahren nach Wales gezogen, der Arbeit halber, nach Leicester pendelt er nur wegen seines Herzensvereins. So könnte es passieren, dass er binnen eines Sommers nicht nur eine, sondern gleich zwei der größten Sensationen des Fußballs hautnah miterleben könnte. Auch wenn er sich wahrscheinlich schwertäte, das alles zu erklären, wild gestikulierend und mit abbrechender Stimme.

Stephan Reich

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