zum Hauptinhalt
Chris Coleman übernahm Wales nach dem Suizid von Gray Speed.

© imago/BPI

Wales im EM-Halbfinale: Trainer Coleman: "Habt keine Angst zu träumen"

Chris Coleman übernahm Wales nach dem Selbstmord seines Vorgängers Gary Speed. Der Trainer ist bei aller Schrulligkeit ein begnadeter Motivator und Taktiker.

Es ist nicht ganz einfach, nach einem adrenalingetünchten Viertelfinale einer EM Worte zu finden, die sich andere aufs Kopfkissen sticken könnten. Chris Coleman, der Trainer der walisischen Nationalmannschaft, allerdings hielt nach dem 3:1 gegen Belgien am Spielfeld eine klare, fast spirituelle Rede. Der Reporter fragte ihn, was er den Millionen von Kindern sagen würde, die jetzt immer noch hellwach vor dem Fernseher sitzen. „Träumt. Habt keine Angst zu träumen“, sagte Coleman. „Vor vier Jahren war ich von diesem Moment hier so weit weg, wie man es sich nur vorstellen kann. Und habt keine Angst vor dem Scheitern! Ich bin häufiger gescheitert, als ich Erfolg hatte.“

Coleman ist ein begnadeter Rhetoriker

Sein Trainer-Ausweis baumelte noch an dem blauen Uefa-Band um den Hals. Coleman ist in den Arenen Frankreichs noch nicht so bekannt, dass er darauf verzichten könnte. Doch er liefert kontinuierlich Bonmots, die das Turnier überdauern könnten. Schon nach der Gruppenphase sagte er: „Geografisch sind wir ein kleines Land, aber von der Leidenschaft her haben wir heute gespielt wie ein Kontinent.“ Coleman ist ein begnadeter Rhetoriker, der selten um Worte verlegen ist. 2007 erschien er bei seinem Job in San Sebastian anderthalb Stunden zu spät zur Pressekonferenz. Seine Begründung: Nach einem Defekt der Waschmaschine stand seine gesamte Wohnung unter Wasser. Wenig später kam heraus, dass Coleman in der Nacht zuvor bis fünf Uhr in einem Klub gefeiert und auf etwas andere Weise ausgetrocknet hatte.

Nach dem Suizid von Gary Speed wurde er Nationaltrainer

Nur bei seiner Vorstellung als walisischer Nationaltrainer im Januar 2012 rang er mit den Worten – und mit Tränen: „Es ist für mich sehr schwierig, hier zu sitzen.“ Coleman war zum Nationaltrainer ernannt worden, nachdem sich Gary Speed im Alter von 42 Jahren das Leben genommen hatte. Speed war nicht nur Colemans Vorgänger, sondern auch ein enger Freund gewesen. Beide kannten sich seit 30 Jahren aus gemeinsamen Jugendfußballertagen. Coleman musste lange überredet werden, um Speeds Amt zu übernehmen. Beim Abschiedsspiel für Speed überließ er das Amt seinem Assistenten.

Vorbereitungen der walisischen Mannschaft auf das Halbfinale, am 5. Juli in Lyon.
Vorbereitungen der walisischen Mannschaft auf das Halbfinale, am 5. Juli in Lyon.

© dpa/Taherkenareh

Fünf Spiele später wollte Coleman bereits aufgeben. Er hatte mit seiner Mannschaft jede einzelne Partie verloren, unter anderem 1:6 gegen Serbien. In jenen Tagen war Coleman von einem EM-Halbfinale „so weit weg, wie man es sich nur vorstellen kann“. Ein 2:1-Sieg gegen Schottland brachte aber kurz darauf den Umschwung in der walisischen Mannschaft, in der EM-Qualifikation schafften sie vier Punkte gegen den Favoriten Belgien. „Captain Cookie“, wie Coleman wegen seiner Vorliebe für Kekse genannt wird, führte Wales erstmals seit 1958 zu einem großen Turnier – und dann gleich ins Halbfinale.

Sein Plan: den Gegner auf die Außen zu zwingen

Die Fans sangen: „Coleman had a dream to build a football team“ – Coleman hatte einen Traum, eine Mannschaft zu bauen. Sein Masterplan dabei sieht so aus: Bei gegnerischem Ballbesitz formiert Wales eine Fünferreihe, drei Mittelfeldspieler engen die Räume im Zentrum ein und verschieben ballorientiert. Der Gegner wird so auf die Außenbahnen gezwungen, doch bei Hereingaben ins Zentrum sind die Verteidigerschränke um Kapitän Ashley Williams schwer zu überwinden. Bei eigenen Angriffen sind die Mittelfeldspieler Joe Allen und Aaron Ramsey die entscheidenden Scharniere. Deshalb schmerzt der Ausfall des gelbgesperrten Ramsey im Halbfinale gegen Portugal besonders.

Die Waliser schalten nach einem Ballgewinn nicht nur schnell um, sondern auch geschlossen. Innerhalb von weniger als vier Sekunden direkt nach dem Ballgewinn in der eigenen Hälfte sind mitunter fünf Spieler in der gegnerischen. Aus der Fünferkette schieben die Außenverteidiger weit auf, wie Chris Gunter einige Minuten vor dem Ende bei der Flanke zum 3:1 gegen Belgien.

Experten wie Alan Shearer, der mit Coleman zusammen bei Blackburn spielte, sind voll des Lobes: „Das war kein Glück, sie haben Belgien einfach vom Platz gespielt. Man kann Chris nicht hoch genug loben. Jede einzelne seiner Entscheidungen geht auf.“ Die Engländer haben Coleman schon als neuen Trainer der „Three Lions“ auf der Liste. Doch der erklärte vor dem Halbfinale, dass bei den Nationalmannschaften einzig und allein Wales für ihn in Frage käme.

Danach lieferte er mit Blick auf das Halbfinale wieder eine geschliffene Rede: „Du kannst jetzt geblendet sein von dem Licht, erschrecken und in deine Ecke zurückkriechen. Oder du kannst an dich selbst glauben und dich darauf vorbereiten, für deine Identität einzustehen.“ Da wollten sich selbst die umstehenden Journalisten direkt ein Trikot anziehen und rauslaufen.

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
showPaywallPiano:
false