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Sport: Was Kahn kann, was Lehmann kann

Die Debatte um die deutsche Nummer eins bei der WM ist völlig überhitzt – hier einige rationale Entscheidungshilfen

Berlin - Wenn Jürgen Klinsmann heute Abend auf der Tribüne des Stadio delle Alpi sitzt, hat er fast nur Augen für einen Mann: Jens Lehmann. Der Torwart das FC Arsenal aus London trifft im Viertelfinal-Rückspiel der Champions League auf Juventus Turin. Mit einer fehlerfreien Leistung könnte Lehmann sich einen klaren Vorteil im Kampf um das deutsche Tor während der Weltmeisterschaft verschaffen und damit die Verantwortlichen des FC Bayern München noch mehr reizen. Nachdem Oliver Kahn, der Torwart des Deutschen Meisters, Schwächen in der Bundesliga gezeigt hat, greift nach Bayerns Manager Uli Hoeneß nun auch Trainer Felix Magath in die überhitzte Torwart-Diskussion ein. „Dieses Thema nervt nicht nur, sondern wird für den FC Bayern auch langsam zur Belastung“, sagte Magath. Er fordert eine rasche Entscheidung: „Jeder Tag eher ist sinnvoll.“

Trotzdem will der Bundestrainer an seinem Zeitplan festhalten. „Wir werden den Monat Revue passieren lassen und uns Anfang Mai entscheiden“, sagte Klinsmann. Unterstützung erhält er von Gerhard Mayer-Vorfelder. „Die Konkurrenzsituation hat die Torhüter nicht geschwächt, sondern sogar gestärkt“, sagte der Präsident des Deutschen Fußball-Bundes. Bezogen auf die Nationalelf lassen sich Stärken und Schwächen beider Kontrahenten statistisch belegen.

Einsätze: Seit Klinsmanns Amtsübernahme im August 2004 bestritt die deutsche Nationalmannschaft 24 Länderspiele. Die beiden Kontrahenten Kahn und Lehmann kommen auf fast gleich viele Einsätze: Kahn auf elf, Lehmann auf zehn. Hinzu kommt jeweils eine Halbzeit aus dem ersten Länderspiel unter Klinsmann in Wien gegen Österreich, bei dem der Bundestrainer zur Halbzeit die Torhüter tauschte. Schon deshalb lassen sich die Leistungen beider Torhüter relativ gut vergleichen. Timo Hildebrand, der dritte Torwart, bestritt lediglich zwei Spiele. Kahn und Lehmann absolvierten rund die Hälfte ihrer Einsätze vor deutschem Publikum. Eine leichte Abweichung gibt es lediglich bei der Qualität der jeweiligen Gegner. Während Kahn zweimal gegen Spitzenmannschaften spielte (Brasilien und Holland), hütete Lehmann gegen vier Spitzenmannschaften das Tor (Argentinien, Brasilien, Frankreich, Italien). Generell lässt sich sagen, dass die von Klinsmann 2004 eingeführte Rotation im Tor für die Leistungen in Länderspielen nicht von Nachteil war. Lehmann unterlief nicht ein schwerer Fehler vor Gegentoren und Kahn auch nur im bislang letzten Testspiel gegen die USA bei einer 4:0-Führung.

Gegentore: Oliver Kahn musste 18 hinnehmen, Lehmann 14. Dem Münchner gelangen unter Klinsmann nur drei Zu-null- Spiele, dem Londoner immerhin fünf, also bei der Hälfte seiner Einsätze. Zudem gelang es Lehmann beim Länderspiel in Frankreich im Herbst 2005, gegen eine Mannschaft aus den Top Ten der Weltrangliste ohne Gegentreffer zu bleiben. Kahn war das zuletzt beim 1:0-Sieg in London vor fünfeinhalb Jahren gelungen.

Spielauffassung: Kahn und Lehmann interpretieren das Torwartspiel recht unterschiedlich. Kahn ist ein Vertreter der klassischen Torwartschule. Er klebt vor allem auf der Torlinie und hat dort mit guten Reflexen seine Stärken. Kahns Torwartspiel vermittelt optisch für einige Beobachter den besseren, weil sichereren Eindruck. Lehmann ist ein mitspielender Torwart, der oft weit vor dem Tor steht und eine Art Libero oder fünften Verteidiger gibt. Sein Torwartspiel ist das riskantere, weil er dabei schnell einmal schlecht aussehen kann. Lehmanns Stärken liegen in der Strafraumbeherrschung und der schnellen Spieleröffnung.

Typische Situationen: Auffallend ist, dass Lehmann insgesamt mehr Torschüsse abwehrt als Kahn, was allerdings auch, aber nicht nur, mit den Leistungen der jeweiligen Abwehrreihen zusammenhängt. Im Vergleich mit Kahn hat Lehmann Vorteile bei Weitschüssen und bei so genannten hohen Bällen. Während Kahn vier Weitschusstore hinnehmen musste, war es bei Lehmann nur eins. Zudem geht Lehmann bei Flankenbällen entschlossener raus, fängt insgesamt fast doppelt so viele Flankenbälle ab und musste aus solchen Situationen nur ein Gegentor hinnehmen, Kahn dagegen vier. In der Luft und im Strafraum hat Lehmann klare Vorteile, weil er das dafür bessere Timing und die nötige Ruhe hat; selbst bei hoch geschossenen Torschüssen ist er nicht einmal bezwungen worden, Kahn mehrmals. Nur in einem statistischen Wert ist Kahn gegenüber Lehmann im Vorteil: Kahn vereitelt prozentual mehr Großchancen als sein Herausforderer.

Erfahrung: Beide Kontrahenten sind 36 Jahre alt und spielen seit Jahren auf hohem internationalen Level. Während Kahn seit 1995 insgesamt 84 Länderspiele bestritt, bei denen ihm zwei Eigentore unterliefen, kommt Lehmann seit 1998 auf 29 Einsätze (kein Eigentor). Dafür trifft Lehmann seit 2003 in Englands Premier League durchschnittlich häufiger auf internationale Topstürmer als Kahn in der Bundesliga. Für Kahn wiederum spricht, dass er bereits drei große Turniere gespielt hat: die EM 2000, die WM 2002 sowie die EM 2004. Jens Lehmann war bei diesen Turnieren jeweils die Nummer zwei.

Fitness: Während sich bei Oliver Kahn in jüngster Zeit kleinere Verletzungen (eingeklemmter Rückennerv, Rippenprellung) wieder häufen, wirkt Lehmann topfit. Über körperliche Wehwehchen klagte der Wahl-Londoner zuletzt im vergangenen Herbst. Jens Lehmann wirkt mit seiner Größe (1,93 m) bei einem Gewicht von 86 Kilogramm einen Tick austrainierter als Kahn (1,88 m, 91 kg).

Mentale Stärke: Kahn, einst ein Monument mentaler Stärke, zeigte in den vergangenen Wochen kleinere Schwächen. Während sich sein Konkurrent in der Champions League auf höchstem Niveau präsentieren konnte und dort mehrere Spiele ohne Gegentreffer absolvierte, unterliefen Kahn zuletzt einige Patzer (gegen Hamburg, die USA, Köln), was ihn hat dünnhäutig werden lassen. Lehmann schwimmt derzeit in England auf einer Welle der Anerkennung, sein Vertrag wurde von Arsenal bis 2007 verlängert. Kahns Werte sinken. Das rief Felix Magath auf den Plan. Für den Bayern-Trainer war der Konkurrenzkampf um das deutsche Tor „nie offen und fair“. Kahn habe als Titelverteidiger mehr zu verlieren gehabt als sein Herausforderer Lehmann, der nur habe gewinnen können.

Die Entscheidung: Die sportliche Leitung der Nationalelf hatte für eine zeitlich begrenzte Phase beide Kandidaten getrennt. Wenn Kahn im Länderspieleinsatz war, reiste Lehmann nicht mit an und umgekehrt. Klinsmann wollte herausfinden, wie sich der Einzelne in der Gruppe verhält. In diesem Punkt hat Kahn auf Lehmann aufgeholt. Unlängst hat Klinsmann sein Anforderungsprofil konkretisiert. Es gehe nicht darum, wer der bessere Torwart, sondern wer besser für die Mannschaft sei. Diese Frage lässt sich nicht losgelöst von der Wahl des Spielsystems beantworten. Sollte sich der Bundestrainer – wie zu erwarten – für die offensivere Variante entscheiden, spräche mehr für Lehmann.

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