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Hauptsache, positiv. Bei Jürgen Klinsmann hatte man manchmal das Gefühl, dass es gar kein schlechtes Wetter geben kann.

© dpa

Wer hat die Deutungshoheit?: Jürgen Klinsmann und seine verquere Wahrnehmung

Mit seinem Rücktritt als Trainer von Hertha BSC und seinen Erklärungen danach hat Jürgen Klinsmann erneut gezeigt, dass er in seiner eigenen Realität lebt.

Der Witz war wirklich gut. Er war so gut, dass sogar Jürgen Klinsmann lachen musste. Das Problem: Jürgen Klinsmann hatte den Witz selbst erzählt. Und vor allem war der Witz gar nicht als Witz gemeint gewesen. „Die Mannschaft spielt immer besser“, hatte Jürgen Klinsmann gesagt, zwei Tage nach der verheerenden Niederlage gegen Mainz 05.

Das war am Montagabend, als der Trainer von Hertha BSC den Fans des Vereins zum letzten Mal als Trainer von Hertha BSC in einem Videochat Rede und Antwort stand. Zu diesem Zeitpunkt war ihm längst klar, dass er sein Amt am nächsten Tag aufgeben würde. Es hat ihn nicht davon abgehalten, die Hertha-Welt noch einmal in den schillerndsten Farben zu malen.

Jürgen Klinsmann oder: Die Welt als Wille und Vorstellung.

Was Ende November als Aufbruch in eine glänzende Zukunft begonnen hat, endete am Dienstagmorgen, nach gerade mal elf Wochen, in großer Ernüchterung. Ohne sich mit dem Verein abzustimmen und nach einem wohl denkbar kurzen Gespräch mit Manager Michael Preetz, gab Klinsmann per Facebook seinen Rücktritt als Trainer bekannt. Er begründete das mit fehlendem Vertrauen der handelnden Personen – und versuchte damit den Grundton der folgenden Debatte vorzugeben, an dem er auch im weiteren Verlauf des Tages festhielt. Etwa als er der „Bild“-Zeitung ein exklusives Interview zu den Hintergründen seiner Entscheidung gab.

Schuld sind immer die anderen

Man muss dazu wissen, dass Klinsmann mit der Zeitung früher oft überkreuz lag, dass die „Bild“ in seiner Zeit als Bundestrainer die Stimme der Besitzstandswahrer gab, die sich zum Beispiel über seine Entscheidungen – Fitnesstrainer aus den USA – lustig machte („Schluss mit Gummi-Twist“). Aber, hey: Jetzt geht es um die Deutungshoheit. Also stellte Klinsmann im Interview mit seinen einstigen Intimfeinden Herthas Vereinsführung als Bremser und Blockierer hin, die dem Aufbruch in die Moderne und damit vor allem ihm selbst im Wege gestanden haben.

Das passt zu den Erfahrungen der vergangenen elf Wochen. Bei Klinsmann sind immer die anderen Schuld gewesen. Zu viele geheime Trainingseinheiten? Legt der Verein fest. Ausschluss von Fans und Medien? Ein Missverständnis der Presseabteilung. Die Handyhülle mit dem falschen Sponsorenlogo? Hat mir meine Frau geschenkt.

Natürlich kann man über die Rolle von Präsident Werner Gegenbauer und seinem Protegé, Manager Preetz, debattieren; natürlich kann sich Klinsmann über die aus seiner Sicht konservativen Einstellungen des Managers aufregen. Aber wenn er mehr Kompetenzen für sich beansprucht, unter anderem für Transfers, muss man sich ja nur anschauen, was in diesem Winter passiert ist, als ihm fast jeder Wunsch erfüllt wurde. Als etwa sein Wunschspieler Santiago Ascacibar vom VfB Stuttgart verpflichtet wurde, obwohl es für die Position im Kader mit Arne Maier einen Spieler gibt, der zu den talentiertesten überhaupt in ganz Europa zählt.

Plötzlich war Hertha BSC ein Himmelfahrtskommando

Dass Klinsmann in seiner eigenen Wahrheit lebt, hat er mit dem „Bild“-Interview noch einmal eindrucksvoll bestätigt, als er den Job bei Hertha als Himmelfahrtskommando bezeichnete. Was soll dann eigentlich jemand wie Markus Gisdol sagen, der die Mannschaft des 1. FC Köln auf dem vorletzten Tabellenplatz und nach vier Niederlagen hintereinander übernommen hat und inzwischen an Hertha vorbeigezogen ist?

Klinsmann behauptet bis heute über sein Debüt mit Hertha, Davie Selke habe bei seinem aberkannten Tor zum vermeintlichen 2:2 gegen Dortmund nicht im Abseits gestanden, der Treffer sei also regelgerecht gewesen. Dass das Tor vom Videoassistenten mithilfe von kalibrierten Linien überprüft worden war? Egal! Im Videochat mit Herthas Fans am Montagabend machte Klinsmann Lucas Tousart, den teuersten Einkauf der Vereinsgeschichte, mal eben zum französischen Nationalspieler. Tousart hat noch kein einziges A-Länderspiel bestritten. Und als nach dem 0:0 gegen den FC Schalke 04 Kritik an Herthas unansehnlicher Spielweise aufkam, verteidigte sich Herthas Trainer mit den Worten, dass seine Mannschaft abgesehen vom Spiel gegen die Bayern immer mehr Torchancen gehabt habe als der Gegner.

Auch diese Aussage lässt sich recht leicht widerlegen. Laut „Kicker“, der bei jedem Spiel die Torchancen ermittelt, hatte Hertha lediglich in drei der sieben Begegnungen mehr Chancen als der Gegner. Nimmt man die „Expected Goals“ zum Maßstab, war es in vier der Spiele der Fall – aber definitiv nicht in jedem.

Seine große Starke war seine entscheidende Schwäche

Jürgen Klinsmann gilt seit seiner Zeit als Bundestrainer als glänzender Motivator. Auch in jener Zeit hat er die Dinge oft positiver dargestellt, als sie in Wirklichkeit waren. Und das sogar mit Erfolg. Wenn er dem EM-Vorrundenausscheider in den Jahren 2004 ff. nicht immer wieder eingebläut hätte „Wir werden bei der WM im eigenen Land Weltmeister“, dann hätte es die Nationalmannschaft 2006 wohl tatsächlich nicht bis ins Halbfinale geschafft. Aber was seine große Stärke war, hat sich in Berlin als entscheidende Schwäche herausgestellt. Klinsmanns Dauerbeschallung mit guter Laune, seine größenwahnsinnigen Ziele mit Hertha haben ihn mehr und mehr als der Realität entrückt erscheinen lassen.

Auch deshalb ist Klinsmann jetzt so sehr daran interessiert, seine eigene Sicht der Dinge zu transportieren. So verkündete er am Mittwochnachmittag, dass er am Abend bei Facebook erneut für Fragen der Fans zur Verfügung stehe. Kurz zuvor hatte Hertha BSC für den kommenden Tag zu einer Pressekonferenz eingeladen: mit Manager Preetz, Präsident Gegenbauer und Lars Windhorst, dem neuen Großinvestor des Klubs. Jenem Mann also, der Klinsmann erst bei Hertha in verantwortungsvolle Position gebracht hat.

Es ist davon auszugehen, dass beide Seiten noch einmal ihre Verbundenheit zum Ausdruck bringen werden und sich Windhorst zu seinem sogenannten Committment für Hertha BSC bekennen wird. Dass er dafür Jürgen Klinsmann im Sinne des großen Ganzen fallen lässt, ist zumindest nicht mehr ausgeschlossen.

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