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Sport: Wertvoller denn je

Die Bayern hoffen auf Kahns Einsatz gegen den AC Mailand – der Torwart spielt stark, ist aber angeschlagen

Von allen Menschen, die jemals von mehr als anderthalb Milliarden Augenpaaren angeblickt worden sind, war er wohl der einsamste in jenem Moment, damals, am Pfosten von Yokohama, im Juni 2002. Er hatte eine famose Fußball-Weltmeisterschaft gespielt, doch in diesem Moment, da das Finale gerade verloren gegangen war, 0:2 gegen Brasilien, da war sein Blick starr und leer. Er selbst hatte ja zu diesem Ausgang beigetragen, mit einem Fehler, den er so vermutlich zuletzt im E-Jugend-Training gemacht hatte, und das nun ausgerechnet auf dieser, auf seiner Bühne. Schwer zu sagen, was er in diesem Moment dachte, jedenfalls bohrte sich sein Blick so entschieden in irgendeine jenseitige Ferne, dass er bei freier Sicht wahrscheinlich bis ins Berliner Olympiastadion hätte gucken können: jene Sportstätte, in der er seinen historischen Lapsus irgendwann würde gut machen können. Wenn alles gut läuft, vielleicht.

Drei Jahre und acht Monate ist das nun her, und wenn der Eindruck nicht täuscht, scheint Oliver Kahns Leistungskurve tatsächlich an einem solchen Vier-Jahres-Zyklus entlang zu laufen. Pünktlich zum Beginn des WM-Jahres hat der Nationaltorwart seine Form auf einem Niveau stabilisiert, das der Verfassung von 2002 zumindest nahe kommt.

„Seit drei, vier Monaten spielt Oliver wunderbar“, sagte gestern Kollege Willy Sagnol mit ehrlicher Hochachtung, „Sensationell. Das freut mich, denn jetzt kommen die großen Highlights. Ich hoffe, dass er fit ist.“ Am Samstag hatte sich Kahn den Oberschenkel geprellt, so schwer, dass sich darin eine Menge Blut sammelte. Lymphdrainagen und eine Stromtherapie wurden durchgeführt, um bei Bayerns Achtelfinal-Hinspiel in der Champions League heute gegen den AC Mailand (20.45 Uhr, live in Sat 1 und Premiere) wieder fit zu sein. „Olivers Fehlen wäre ein Handicap. Jemand, der international über so viel Anerkennung verfügt, ist sehr wichtig für eine Mannschaft“, sagte Trainer Felix Magath. Ob Kahn aufläuft, entscheidet sich wohl erst kurz vor dem Spiel. Gestern brach er einen Belastungstest beim Abschlusstraining des FC Bayern ab. Ein Fehlen dürfte Kahn kaum in den Plan passen, gerade jetzt. In den letzten Wochen hat Bayerns Kapitän angedeutet, dass er wieder bereit ist für die große Bühne, das Spiel gegen Milan böte einen Vorgeschmack auf den Druck, der bei der WM herrschen wird – ein Druck, von dem Kahn früher behauptet hat, er würde ihn stark machen.

In den vergangenen Jahren war das nicht immer so. Nachdem Kahn im Anschluss an die WM 2002 eine Phase durchgemacht hatte, in der ihm die Konzentration auf seinen Job sichtlich schwer fiel. Als die Klatschpresse sein Pendeln zwischen Familie und Freundin akribisch protokollierte, dauerte es eine Weile, ehe Kahn sich wieder auf seine Beschäftigung konzentrierte. Gerade bei den wichtigen Spielen wollte das nun oft nicht mehr gelingen. Gegen Real Madrid ließ Kahn einen Ball durch die Arme flutschen. Gegen Bremen legte er im entscheidenden Saisonspiel dem Gegner den Ball vor die Füße. Hinzu kam das Klinsmannsche Wechselspiel im Nationaltor und seine Absetzung als DFB-Kapitän. Insgesamt, so schienen sich die Anzeichen zu verdichten, sei Kahn über seinen Zenit hinaus.

Spätestens seit dieser Saison hat er sich daran gemacht, das Gegenteil zu beweisen. Vor 14 Tagen bei Hertha BSC etwa rettete er Bayerns Unentschieden mit Glanzparaden, ebenso die jüngsten Heimsiege gegen Leverkusen und Nürnberg. „Ein Mann, der so viel für den Verein geleistet hat, wird von uns immer ein neues Angebot bekommen“, hatte Manager Uli Hoeneß noch zu Saisonbeginn gesagt. Das klang ein wenig danach, als sei die in Aussicht gestellte Vertragsverlängerung eher ein Akt der Höflichkeit als sportstrategische Maßnahme. Als Hoeneß kürzlich von der Einigung auf eine weitere zweijährige Zusammenarbeit berichtete, wirkte er aufrichtig erfreut. Selbst ein weiteres Engagement in der Nationalmannschaft hat Kahn nicht ausgeschlossen. Dazu würde es nur kommen, wenn er auch die WM spielt. Klinsmann hat ihn stets als Lösung „1 A“ bezeichnet, doch zuletzt war auch Jens Lehmann, Kontrahent aus London, in Bestform. Sollte sich Klinsmann, wie er vorgibt, noch nicht festgelegt haben, sind es nun wohl die großen Spiele, die den Ausschlag geben werden. Spiele wie das gegen Mailand.

Daniel Pontzen[München]

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