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Wettkampf des Tages: Feinarbeit mit schwerer Kugel

Kugelstoßer müssen ihre Kraft sorgfältig dosieren. Einer kann das schon ganz gut: der talentierte David Storl, der heute seine WM-Premiere feiert. Routinier Ralf Bartels sieht in ihm seinen Nachfolger

David Storl trägt jetzt keine Brille mehr. Er hatte sie abgelegt, weil er Migräne hatte. Ohne Brille, dachte er, geht die Migräne weg. Sie ging nicht weg, aber die Brille hat er trotzdem irgendwo hingepackt. Als er mit dieser Brille herumlief, da war er noch schmächtig, da war er einfach der unauffällige David aus Döhlen, dem 150-Einwohner-Nest in Sachsen. Storl muss ein bisschen grinsen, wenn er an dieses Bild denkt.

Jetzt ist er 19, fast zwei Meter groß, hat Hände wie Bratpfannen und, ja doch, bemerkenswerte Oberarmmuskeln. Man kann seine hünenhafte Statur bloß nicht so richtig sehen. Weil Storl auf einer Bank vor einem Pavillon im Leistungszentrum Kienbaum sitzt, den Oberkörper gebeugt, den Kopf gesenkt, die Schultern nach vorne gezogen. David Storl macht sich so unscheinbar wie möglich. Und als einer der Journalisten, die sich um ihn herum gruppiert haben, auch noch sagt: „Udo Bayer hat erklärt: Dieser Bengel fasziniert mich“, da dreht Storl langsam den Kopf und blickt schräg nach oben. Es ist unklar, ob er irritiert oder verlegen ist. „Ja“, sagt er gedehnt, „das schmeichelt schon.“

Udo Bayer war zu DDR-Zeiten Olympiasieger und Weltrekordler im Kugelstoßen. Er war hochgedopt, als er die Kugel 22,64 Meter weit wuchtete, aber das ist nicht der Punkt. Der Punkt ist sein Kommentar zu Storl. Dieser David Storl, sagt Dietmar Chounard, der Bundestrainer für die Altersklassen U 20 und U 23, sei „ein Jahrhunderttalent“. Der 19-Jährige vom LAC Chemnitz verbesserte in dieser Saison mit der Sechs-Kilogramm-Kugel mehrfach den U-20-Weltrekord, zuletzt auf 22,73 Meter. Und die Männerkugel, 7,26 Kilogramm schwer, stieß er 20,43 Meter. „So gut“, sagt Ralf Bartels, der Europameister aus Neubrandenburg, „war ich in seinem Alter nicht.“ Bartels ist 31.

In Berlin soll Storl nur lernen, es ist seine erste WM. Und der ganze Rummel um ihn, der ist ihm zu heftig. „Wenn ich auf 20,40 Meter kommen würde, wäre das toll“, sagt er. Aber Storl ist der Mann, der nach Bartels kommt, das deutsche Kugelstoßen hat auch für die nächsten Jahre einen Topmann. „Man muss nur aufpassen, dass man ihn nicht zu früh verheizt“, sagt Bartels.

Der 31-Jährige hat eine Saisonbestleistung von 21,11 Metern. Wer Medaillen will, sagt er, muss über 21 Meter stoßen, aber das traut er sich zu. Bartels ist Sechster der Jahres-Weltrangliste, die Favoriten sind der Pole Tomasz Majewski und Reese Hoffa, Christian Cantwell und Daniel Taylor, alle aus den USA. Majewski ist der Saisonbeste mit 21,95 Metern, Hoffa tritt als Titelverteidiger an. Allerdings, seltsam, seltsam, stoßen vor allem die US-Amerikaner bei Höhepunkten oft weniger weit als sonst in der Saison.

Sie sehen plump aus, die starken Männer im Ring, aber Kugelstoßen ist eine hochkomplexe Angelegenheit. Es genügt nicht, viel Kraft zu haben oder besonders schnell angleiten zu können. Die Feinabstimmung macht’s. Man darf beim Angleiten nur so viel Kraft aufwenden, wie man am Ende auch wieder abbremsen kann. Wer zu schnell angleitet, kann beim Stoß sein Gewicht nicht halten und tritt auf oder über den Balken. Also muss man mühsam die optimale Geschwindigkeit herausfinden. Und alles muss schnell gehen. Ein Stoß dauert insgesamt nicht mal eine Sekunde.

Eine Schlüsselstelle ist der Übergang vom Angleiten in den Bereich des Stoßes. Wer hier zu viel Zeit verliert, kommt nicht auf Weite. Genau bei dieser Schlüsselstelle wird Storl auch zum Jahrhunderttalent. Er verliert beim Übergang kaum Geschwindigkeit. Und bei Messungen vom Institut für Angewandte Trainingswissenschaft in Leipzig haben die Biomechaniker festgestellt, dass er beim Eindrehen seiner Hüfte bessere Geschwindigkeitswerte hatte als Bayer oder Ex-Weltrekordler Ulf Timmermann.

Storl hat auch mal die Drehstoßtechnik ausprobiert, einfach so, ein Spaß im Training. Selbst da kam er auf Weite. Peter Sack, sein Zimmergenosse bei der WM, ist Drehstoßer. Diese Technik ist zwar schwieriger zu lernen, aber dafür hat man da weniger Probleme mit dem Abbremsen der Kraftdosis.

Wahnsinn, Jahrhunderttalent, mit solchen Begriffen kann Storl wenig anfangen. Er blickt auf seine Unterarme, dick wie junge Birken, und sagt: „In den Kraftbereichen habe ich schon noch Defizite.“ Die großen Weiten, die sollen in Berlin sowieso andere stoßen, Storl will nur an seine Bestleistung herankommen. Das ist schwierig genug. Andererseits, findet er, ist er das seinen Anhängern schuldig. Denen jedenfalls, die sich organisiert haben. Seit ein paar Wochen gibt’s in Döhlen einen David-Storl-Fanklub.

Kugelstoßen Männer, 20.15 Uhr, live in der ARD.

Der Bundestrainer bezeichnet David Storl als „Jahrhunderttalent“. Der 19-Jährige geht ohne Druck in die WM und gilt in Deutschland als der kommende Mann nach Europameister Ralf Bartels

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