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Gestützt von den Konkurrenten. Willi Holdorf wird vom sowjetischen Silbermedaillengewinner Rein Aun (links) und dem Wolfsburger Horst Beyer im Ziel aufgerichtet.

© imago/Horstmüller

Willi Holdorf: Taumelnd zur Legende

Vor 50 Jahren in Tokio wurde Willi Holdorf als erster Deutscher Olympiasieger im Zehnkampf – sein geradezu mythischer Kampf um Gold inspirierte folgende Generationen.

Auf einem Bauernhof in Unterfranken saß am 20. Oktober 1964 ein elf Jahre alter Junge und schaute Fernsehen. Was gezeigt wurde, war weit weg und kam doch ganz nah an ihn ran. Im Fernsehen sah er, wie in Tokio ein deutscher Leichtathlet mit letzten Kräften auf der Zielgerade des 1500-Meter-Laufs rannte, sein Kopf wankte vor Erschöpfung hin und her und im Ziel brach er erst einmal zusammen. Doch es hatte für ihn gereicht. Willi Holdorf aus Schleswig-Holstein wurde als erster Deutscher Olympiasieger im Zehnkampf, und vor dem Fernseher sagte sich der elf Jahre alte Guido Kratschmer: „Das will ich auch machen.“

Holdorfs Sieg faszinierte und er wirkte nach, weil sein Kampf so inspirierte. „Er war mein sportliches Idol“, erzählt Kratschmer heute. Holdorf gewann zu einer Zeit, als die Leichtathletik noch als Sport in Reinform gefeiert wurde und der Sieger des Zehnkampfs als König der Athleten. Und als König begründete Holdorf eine ganze Ahnenreihe.

Erst folgte ihm Kurt Bendlin mit Olympiabronze 1968 und einem Weltrekord. Dann kam auch schon Guido Kratschmer. Er gewann 1976 in Montreal Olympiasilber und stellte 1980 den Weltrekord auf. Im Grunde verhinderte nur der Olympiaboykott von westlichen Ländern wie der Bundesrepublik, dass Kratschmer auch 1980 in Moskau Olympiasieger werden konnte. Doch die Ahnenreihe der erfolgreichen deutschen Zehnkämpfer ging weiter. In Los Angeles 1984 landeten Jürgen Hingsen und Siggi Wentz nur knapp hinter dem Briten Daley Thompson, 1988 in Seoul wurde Christian Schenk Olympiasieger für die DDR, Torsten Voss gewann Silber, der im Jahr zuvor auch Weltmeister geworden war. Und die bisher letzte Olympiamedaille im Zehnkampf strahlt auch noch nach, es ist die silberne von Frank Busemann 1996 in Atlanta.

Dass der Zehnkampf gerade in Deutschland so verehrt wurde, als zwei Tage dauernder Kampf, daran hat Holdorf mit seiner Leistung vor 50 Jahren entscheidenden Anteil. Sein Kampf hatte etwas Mythisches. „Bei Holdorf spielten nicht einmal die üblichen Zutaten, überwältigende, vereinnahmende Eleganz oder eine alles zertrümmernde Überlegenheit die große Rolle“, schreibt Knut Teske in der gerade im Arete-Verlag erschienenen Holdorf-Biografie „Da steht die Welt still“. „Sein weltweiter Ruhm basierte auf dem Gegenteil: Der Mann war fertig und torkelte nicht mal als Erster ins Ziel, sondern weit hinter Rein Aun, seinem ärgsten Konkurrenten, her.“

Achtzehn Sekunden hatte Holdorf vor dem abschließenden 1500-Meter-Lauf Vorsprung auf Rein Aun aus der Sowjetunion. Sein Trainer Friedel Schirmer wollte Holdorf zusätzlich anstacheln und gab ihm nur 14 Sekunden als Vorsprung an. Als Holdorf völlig erschöpft ins Ziel trudelte, waren es dann zwölf Sekunden. Holdorf brachte mit seiner der Antike entlehnten Kompromisslosigkeit auf den zehn letzten Metern seines Tokioter ,Marathonlaufs‘ eine uralte Variante ins Spiel – die Auseinandersetzung „mit sich selbst über den Leistungsgipfel hinaus“, schreibt Teske und zitiert Holdorfs Motiv so: „Dem Sohn wollte ich später nie erklären müssen: ‚Dein Papa war zu schwach, um Olympiasieger zu werden‘.“

„Dass man sich so verausgaben kann, war mir überhaupt nicht bewusst“, erzählt Guido Kratschmer heute. Genau darin habe die Faszination von Holdorfs Zieleinlauf und Olympiasieg gelegen. „Das war emotional anrührend“, sagt Kratschmer, der Holdorf erst als Respektsperson kennenlernte und heute einen freundschaftlichen Kontakt zu ihm hält. „Wir sind uns charakterlich sehr ähnlich, bodenständig und natürlich, die Show ist uns eher fremd.“ Holdorf beendete nach Tokio seine Karriere – mit 24 Jahren. Er wollte seine Familie ernähren und arbeitete als Repräsentant einer Sportartikelfirma. Doch auch danach trug er zum Ruf des Zehnkampfs als Vielseitigkeitswettbewerb bei. Er wurde als Anschieber Vize-Europameister im Bob, war Trainer des damaligen Fußball-Bundesligisten Fortuna Köln und wurde Gesellschafter des Handballklubs THW Kiel.

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