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An der Ägäis, die er 2010 nach den Enttäuschungen bei der EM 2008 und der WM 2010 verlassen hatte, wird "Rehhakles" bis heute vergöttert. Er war als erster Ausländer "Grieche des Jahres", Welt-Nationaltrainer sowie Ehrenbürger Athens.

© dpa

Willmann in tiefer Demut: Unter der Maske des Dimitrios

Mit Hertha steht Otto Rehhagel am fußballerischen Abgrund. Unser Kolumnist Frank Willmann hält das nur für eine Momentaufnahme und glaubt weiter an die besondere Gabe des Trainers. Aus gutem Grund.

Indes der Frühling die Kerzen anzündet, spielt sich auf dem Rasen unserer Leidenschaft das ewig gleiche Dramolett ab. Während die Anderen gewinnen, verliert die gute alte Tante Hertha ein Spiel nach dem anderen und fällt tief und tiefer in den Hitkeller der ewigen Verdammnis. Wenn ein Profiverein zum Sinkflug ansetzt, ist das so genannte Umfeld schnell dabei, einen Schuldigen für das Dilemma zu finden. Das Umfeld, die Fans, die Macher des Clubs. Die Troika des Schreckens in schlechten Tagen. Noch überboten von fußballaffinen Medien, denen der Held von Gestern schnurzpiepe ist.

Oh Otto, was haben wir für Feste gefeiert. Du hast jeden Grund der Welt, dich von bösartigen Trollen verfolgt zu fühlen. Lehnt euch alle zurück. Lasst alle Viere ruhen und löffelt eine Runde in der Erinnerungssuppe. Otto, du bist niemals alleine. Mit dir war ich der Größte der Welt. Du hast mich schon mal zum Sieg über 15 andere Autoren geführt.

Im Jahr, als ich Europameister wurde, verließ ich das Bett 8 Uhr 15. Ich zerquetschte Eier, schmetterte sie in die Bratpfanne und schaltete den Fernseher ein. Otto auf allen Kanälen. Im offenen Mercedes-Benz durch Athen, mit dem Pass Nummer eins in der Hand. Er bekam eine Halbinsel geschenkt und legte Blumen am Grab der unbekannten, deutschen Fußballnationalmannschaft nieder. Otto hatte dem Volk der Griechen den fußballerischen Trauerflor vom Antlitz gerissen. Eine Tat für die Ewigkeit. Otto allein vorm Spiegel. Gewandet in den luftigen Farben Hellas. Ob er vor Scham errötete, als ihm mit voller Wucht all seine immateriellen und zeigbaren Vorzüge bewusst wurden? Sprach er Worte wie: Manche sagen Homer. Ich sage ICH? Ich weiß es nicht, doch die Umstände der Ereignisse des Jahres 2004 lassen mich noch heute erschauern.

Bildergalerie: Otto Rehhagels Karriere und seine Sprüche

Otto wurde mir von einem kessen Unioner kredenzt. In der legendären Sportklause in der Ackerstrasse zu Berlin, die seinerzeit Sportfreund Schuppe mit Manu bewirtschaftete, fand im Winter 2003 die EM-Auslosung statt. Unter den strengen Blicken eines Notars, loste mir Oskar Kosche die Griechen zu. Das wird absurdes Theater, war mein erster Gedanke. Die Griechen, nicht mehr als ein Treppenwitz der Fußballgeschichte. Otto damals ein Auslaufmodell und der Grieche allenfalls Strandschönheit. 16 Autoren bekamen jeweils eine Nation zugelost, um sie schriftstellernd durchs Turnier zu begleiten. Ich ging von Spiel zu Spiel mit Ottos Griechen schwanger. Er war ein Liebe auf Raten, ungewollt dick geworden, erlebte ich ihre Renaissance vom Scheintoten zum Götterheer.

Rehhagel und der Geist der Plumpe

Ich sah die ersten Spiele meiner Griechen in Finnland. Finnland – das Land der Stoiker und Selbstmörder. In Finnland öffentlich Fußball zu schauen, ist unvergleichlich schön. In den Randbezirken Helsinkis finden sich unweit von öden Bahnhöfen und angeranzten Einkaufszentren komische Verschläge. Blindglas verwehrt den Blick ins Innere. Denn es gibt dort Alkohol zu trinken. Des Finnen liebster Freund. Im Inneren des Schlucktempels erwarten den Zecher viele kleine Tische. Fast jeder der Tische ist besetzt. Meist mit einem Finnen oder einer Finnin. Die emotionslos, die Fluppe in der Hand und das Bier vor sich, auf die Glotze schauen. Das Spiel läuft selbstverständlich ohne Ton, um die Einsamkeit der Trinker nicht über Gebühr aufzuhübschen. 

Dort saß ich manche Stunde und genoss die Atmosphäre. Hin und wieder grunzte ich geräuschvoll, was vom Volk der Finnen allenfalls mit einem Zucken der linken Pobacke kommentiert wurde. Ein Franzose, ein Ami und ein Finne stehen im Zoo vor einem Elefanten. Dem Franzosen läuft beim Betrachten der dicken Elefantenwaden das Wasser im Mund zusammen. Er ist voll Vorfreude ob des zu erwartenden Elefantenschnitzels. Der Ami ist ganz Hunter. Er visiert des Elefanten Schädel, mit seiner alles knackenden Elefantenhirnkaputtmachflinte. Der Finne steht zitternd vorm Elefanten und fragt sich, was der Elefant nur von ihm denken mag. Lasst uns beim Betrachten des Ottos ein bisschen wie die Finnen sein.

Als Ottos Mannen im Endspiel der EM die gastgebenden Portugiesen wie paralysierte Karnickel aussehen ließen, als sich Luis Figo und Co. schon vorm Spiel in die Hose machten und mit eingezogenem Anus nach ihrer Mama riefen, war ich ganz Strahlenkranz. Doch tief in meinem Inneren wusste ich natürlich, das für diesen andauernden Husarenritt nur Einer zuständig gewesen ist. Tiefe Demut vor der Größe Ottos erfüllt seitdem mein fußballerisches Ich. Und so ist es mir Schmerz, ihn bei der Berliner Hertha leiden zu sehen. O wie er leidet. Unter der Maske des Dimitrios befindet sich ein Mensch.

Einheit, Opferbereitschaft, Selbstaufgabe – mit der Attitüde des aufgeklärten Autoritätsgläubigen siegte Rehhagel in Portugal. Modern war, wer gewann. Eitelkeit eine Tugend. Der Vorwurf des Steinzeitfußballs prallte an ihm ab, dem Fels im Tosen der jubelnden Menge. Kaiser Franz sprach vorm Endspiel die richtungsweisenden Worte: "Bei dieser EM wurde eine neue Generation eingeleitet oder eingeläutet oder was auch immer."

Einläuten und Einleiten. Was auch immer. O Franz, du Fußballphilosoph. Fakt ist: Es muss was (r)ein in die Nussschalen der Herthakicker. Die Synthese von Rehhagel – und wirklicher Fußballwelt wartet noch auf ihre Vollendung. Rehaklische Ordnung und Flexibilität muss in unsere lokalen Balltreter fahren. Nur dann werden sie auferstehen als bodenständige Proletarier, die bereits in Mainz ihren kosmopolitischen Schnickschnack abgelegen müssen. Der Geist der Plumpe. Hertha muss als Weddinger Team aufblühen, wo jeder Solist auch Statist ist. Und wenn Torwart Kraft als Mittelstürmer in der 89. Minute das 1:0 erzielt, werden wir wissen, warum das so ist.

Otto wird den Kameraschwenkern kein Siegerlächeln schenken.

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