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Carl-Zeiss Jena erinnert in einer Ausstellung an seine 110 Jahre alte Geschichte. Das Europapokalspiel gegen den AS Rom zählt zu den Höhepunkten des Vereins.

© p-a/dpa

Willmanns Kolumne: Als Falcao, Tancredi und Ancelotti aus dem Paradies vertrieben wurden

Der FC Carl Zeiss Jena wird im Sommer 110 Jahre alt. Für unseren Autor Frank Willmann wird es deshalb Zeit, endlich das Geheimnis um den historischen Sieg gegen den AS Rom zu lüften.

Wir waren siebzehn und Fans des FC Carl Zeiss. Letzte Saison hatten wir gegen den scheußlichen Thüringer Rivalen den FDGB-Pokal geholt, uns nach dem Spiel von der geballten Berliner und Erfurter Prügelmacht blutige Nasen geholt. Nun standen wir im Europapokal und bekamen in der ersten Runde gleich den AS Rom zugelost. Falcao, Tancredi, Ancelotti, an ein Weiterkommen war nicht zu denken. Der Club spielte zuerst auswärts und wurde mit 0:3 nach Hause geschickt. Da es dem kleinen Land an Devisen fehlte, gab es keine Fernsehübertragung vom Hinspiel. Also hingen wir unter der Bettdecke am Radio und drehten fiebrig an den Reglern, bis wir endlich die Stimme eines DDR-Radiomoderators hörten, der aus dem fernen Rom nichts Gutes mitteilte: „Die Roma versetzt ihre 80.000 Anhänger in Verzückung, es ist wie ein Märchen“…“Toooor! Schon wieder die Roma! Das 2:0 durch Ancelotti. Ein guter Grund für meinen Kumpel Ralf und mich, um am 1. Oktober 1980 zum Rückspiel nach Jena zu fahren. Wir hatten unsere Freundinnen auf dem Sozius. Bei ihm saß Ina, bei mir Anna. Unsere Stadionbesuche waren stark ritualisiert. Alle Handlungen waren vorgegeben. Nichtbeachtung konnte schlimmste Folgen haben. Während der Fahrt den Strickschal Marke Mutti viermal um den Hals wickeln. In Jena angekommen, wurde er locker um den Hals drapiert. Geparkt wurde immer unter dem Felsenkeller, einer Jenenser Kneipe. Es durfte nur der Saaleeingang benutzt werden. Die Bratwurst wurde immer am gleichen Stand verzehrt. Es wurde streng darauf geachtet, keinen Bornsenf zu benutzen. Der kommt aus Erfurt. Es musste immer ein Programmheft gekauft werden, das einmal gefaltet sofort in die rechte Arschtasche unserer Levis wanderte. Links steckte der blaue Plastikkamm. Das Programmheft durfte erst studiert werden, wenn wir unseren Stammplatz im Stadion eingenommen hatten. Unter der Anzeigetafel, halbe Höhe, leicht rechts. Unser Stadion liegt im Paradies, dem Jenaer Stadtpark an der Saale. Der Flaniermeile der schönsten Jenaerinnen. Nervös strebten wir zur Fankurve, die uns geradezu zauberisch anzog. Endlich daheim! Wir knackten mit den Fingern und stimmten mit unseren Bräuten ins Geheul der Massen ein: „Hier regiert der FCC“! Da war er wieder, dieser Glücksschauer, der langsam den Rücken hinunter wanderte. Eine merkwürdige Stimmung lag über dem ausverkauften Stadion. Es grummelte, murmelte, köchelte. Von der nahen Saale zogen Nebelschwaden. Als ob der Fluss seine unheimlichen Bewohner zum Heil des FCC entsandte. Die selbstherrlichen Römer rieben sich verwundert die Gelenke, schnell zogen sich einige noch Handschuhe über. Die Kälte des Flusses kroch ihnen in die Körper und lähmte die Glieder. Steif staksten sie über das Feld. Diese Steifheit bestimmte während der folgenden neunzig Minuten ihr Spiel. 20 Uhr, Anpfiff, sofort übernahm Jena die Regie. Die Römer schienen mit Bleiwesten unterwegs. Jena kickte überragend. Methodischer, flächiger Spielaufbau, flache und hohe Hereingaben, Nah- und Fernschüsse, Dribblings und Direktkombinationen – die blaugelbweiße Anhängerschar traute ihren Augen nicht. Zehnte Minute Lattenschuss Vogel! In der sechsundzwanzigsten Minute machte Krause das 1:0. Das Stadion jauchzte, ich gab Ralf die hohe Fünf, knutschte Anna ab und zeigte den römischen Fans die Faust. Zehn Minuten später erhöhte Lindemanns Lutz auf 2:0. Ein mittlerer Orkan toste durchs Stadionrund. Wir tanzten im Kreis und bläfften den Nachthimmel an. Kurz vor der Halbzeit ein weiterer Lattentreffer durch Raab, noch ein Tor und wir hätten das Hinspielresultat egalisiert. In der Halbzeit schauten uns die Frauen aus listigen Augen an. Anna sagte: „Alles wird gut. Wir haben gestern Abend ein paar Vorkehrungen getroffen. Vater arbeitet im Testlabor des Chemiewerks. Weiße Mäuse satt. Sie gelten als sehr fluchintensiv. Vor den Torlinien vergraben, die guten alten Beschwörungen aus dem Malefitz, Hexeneinmaleins, na ihr wisst schon. Malleus Maleficarum kann mich mal!“

Anna schlang ihre Arme um mich. Ina tat das gleiche mit Ralf. So eingeklemmt, sahen wir kleine Blitze aus den Augen unserer Freundinnen dringen. Die Blitze vereinigten sich über der Trainerbank. Unser Trainer Hans Meyer trabte über die Tartanbahn. Extreme Spannung, Tunnelblick, Schaum vor dem Mund. Der eine, der ganz große Blitz drang ihm in die Schädeldecke. Er merkte es nicht einmal. Manchmal ist Fußball das Einzige, was uns trägt. In der neunundvierzigsten Minute setzte Hoppe den Ball an den Pfosten. Das Stadion peitschte wie wahnsinnig die Mannschaft nach vorn. In der siebzigsten Minute lieferte unser Trainer mit der Einwechslung des Stürmers Andreas Bielau sein Meisterstück. Bielau fiel weder vor, noch nach diesen letzten zwanzig Minuten gegen Rom durch besonderes fußballerisches Können auf. Doch eben diese letzten zwanzig Minuten an diesem kalten Herbstabend, sollten dank ihm unverrückbar im kollektiven Gedächtnis deren bleiben, die in diesen eintausendundzweihundert Sekunden dabei sein durften. Bielaus erste Ballberührung brachte das 3:0. Dämme brachen, hysterisch schreiend lagen sich fremde Menschen in den Armen. Natürlich war es Bielau, der die Roma drei Minuten vor Spielende mit dem Tor zum 4:0 vernichtete. Surreale Szenen beim Abpfiff. Erst Stille, andächtig seufzte das Stadion. Dann hatten alle Zuschauer nur noch einen Wunsch: die Darsteller dieses Traumes zu berühren. Alt und Jung enterte den Zaun, von allen Seiten strömten die Menschen. Sogar die Bereitschaftspolizisten stürmten auf die Spieler, Trainer und Betreuer zu. Wir mittendrin. Ich erhaschte den Arm von Andreas Bielau und spürte Gott.

Wir schwebten aus dem Stadion zu unseren Motorrädern. Wir schwebten mit unseren Motorrädern nach Hause. Wir schwebten in unseren Betten durchs Zimmer und bellten. Wir bellten den Mond an.

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