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Orks auf dem Weg ins Stadion.

© dpa

Willmanns Kolumne: Orks in Westberlin

Unser Kolumnist Frank Willmann war einst ein aufstrebender experimenteller Lyriker. Als solcher lebte er natürlich in einer Westberliner WG. Einmal kam ihm die Aufgabe zu, seine Mitbewohner zu einem Fußballspiel auszuführen. Es wurde ein für alle Beteiligten denkwürdiges Erlebnis.

Ich lebte als Mitglied einer Wohngemeinschaft im abgelegenen Friedenau. Sie bestand aus Schweizern und Thüringer Exilanten. Wir guckten aus unserer Sechszimmerwohnung auf die Autobahn. Der kontinuierliche Strom vorbei fahrender Automobile war uns kontemplatives Erlebnis. Die Schweizer kochten jeden Tag Nudeln mit Thunfischsoße. Ich fiel ein bisschen aus der Reihe, da jede Woche immer eine seltsame Zeitschrift im Briefkasten landete. Die Neue Fußballwoche, das Fußballfachblatt der DDR. Ich sagte, dieses schreckliche Machwerk sozialistischer Fußballprosa sei gut für meine Kunst. Ich konnte nach der Lektüre unbeschwert dichten, da ich mich naturgemäß auf freiheitlichem Westberliner Boden befand. Vielleicht lag es am Wort naturgemäß, welches ich bei Thomas Bernhard geklaut hatte? Für jeden gebildeten, kultivierten, empfindsamen Menschen war Fußball in den Achtzigern eine Beschäftigung der Orks.

Man muss vielleicht erwähnen, dass alle WG-Bewohner wichtige Reformkünstler waren. O., B. und C. studierten an der Hochschule der Künste. O. wollte die Malerei unwiderruflich abschaffen und las pausenlos französische Mervephilosophen. In ihm staute sich jahrelang Hass auf die Malerei. Die Wut einer ganzen Generation. Er ist später in einem Werbebüro gelandet. Von 20 Uhr bis 23 Uhr aßen wir tagaus tagein Spaghetti und tranken dazu üppig Rotwein. Bier war verpönt, das war den Orks vorbehalten.

Manchmal erhoben wir uns von unserer langen Tafel und zeigten den eingeladenen Malerinnen unsere Autobahn. Da sie, wie alle damals, auch französische Philosophen lasen, gab ihnen der Anblick fahrender Autos häufig den hinreichenden Drive, der sie direkt auf unsere Matratzen führte. Wo war ich stehen geblieben? O. war der Prinz unserer WG. Er war Hahn im Korb der Malerinnen, wir bekamen die Reste. Hatte er sich eine der Grazien ausgesucht, sprach er tröstlich, aber bestimmt: „Na Du. Wir sind noch nicht tot. Man braucht nicht zu leben, um nicht tot zu sein. Es gibt geheimnisvolle Kaktusblüten, die blühen nur einmal. Sonst geschieht nichts mit ihnen. Einmal blühen und sie haben das Leben erlebt.“ Beim letzten Wort näherte sich  O.`s Gesicht seiner Auserwählten, als wolle er, dass ihre Lippen sich berührten. Es gab keine bessere Masche.

Willmann ging tatsächlich einer ehrlichen Arbeit nach - als Kulissenschieber im Theater

B. war der Stille in unserer Runde. Er hatte schöne schwarze Locken. Er wurde von O. häufig kritisiert, da er eine etwas lange Leitung hatte. Während O. pro Tag mindestens einen französischen Mervephilosophen auslas, brauchte B. für ein Buch manchmal drei Tage.  Das stellte ihn in den Augen O.`s fast auf eine Stufe mit den Orks. B. ist heute der einzige aus unserer WG, von dem man behaupten könnte, aus ihm sei etwas geworden. Ein Kunstprofessor im Schwabenland. In den späten Westberliner 80er kümmerte er sich häufig um die abgelegten Geliebten O.`s .

Wenn wir aus unserer Wohnung traten, war ringsum Orkland. Wir setzten unsere schwarzen Sonnenbrillen auf. Gimme Shelter. 

C. wollte eigentlich Filmemacher in der Nachfolge Rainer Werner Fassbinders werden. Doch der schädliche Einfluss O.´s und die Autobahn vor unserem Fenster zerstörten seine Illusionen. O. sagte immer, „… die Bilder sind mächtiger und wirklicher geworden als die Wirklichkeit selbst...“

Das Leben ist Maskerade und Spiel, dachte sich C. und filmte mit seiner Super-8-Kamera während seines Studium vier Jahre Hundebesitzer und ihre Hunde beim Spazieren gehen. Selbstverständlich ohne Ton. Ansonsten hätte man in seine Filmkunst einen gesicherten Sinn interpretieren können. Am Tag seiner Abschlussprüfung saßen wir selbstverständlich im Publikum. Seine Eltern waren überdies aus der Schweiz angereist. C. guckte ein französischer Mervephilosoph aus der Arschtasche, als er nach vorn trat. Er legte einen Finger auf seine Lippen und stellte den Filmprojektor an. C.´s  Werk „Simulation“ brachte seine armen Eltern an den Rand des Wahnsinns. Ich hatte eine schwarze Sonnenbrille auf und schlief schnell ein. Nach fünf Stunden weckte mich frenetischer Jubel aus einem versteckten Tonband. Ein geschickter Schachzug C.´s. Er bekam von seinem Professor eine glatte Eins und schrieb ein Jahr später Drehbücher für eine ZDF-Vorabendserie.

Ich war damals ein aufstrebender experimenteller Lyriker. Als einziges WG-Mitglied ging ich in meiner Freizeit einer ehrlichen Arbeit nach. Ich war Kulissenschieber am Theater. Die Kulissenschieber waren allesamt schachmatte, experimentelle Lyriker. Eine Schule fürs Leben.

Die Trainer sahen zu jener Zeit aus, als wären sie einer Vorabendserie entsprungen

An einem Sonnabend im goldenen Oktober beschloss unsere Wohngemeinschaft, ein Fußballspiel zu besuchen. Es könnte das Jahr 1986 gewesen sein. Warum? O. las gerade ein Werk von Walter Jens. Irgendwas mit Fußball.

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