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Die WM 1974: Im Spiel gegen die Bundesrepublik schießt DDR-Spieler Jürgen Sparwasser (links) das Tor zum 1:0-Sieg.

© dpa

Willmanns Kolumne: Sehnsucht nach dem Spieler

Unser Fußball-Kolumnist Frank Willmann erinnert sich an seine Kindheit: den verbeulten Lederball auf dem Bolzplatz, den Kiosk mit dem Moskauer Eis und die WM 1974.

Meinen ersten zaghaften Tritt gegen einen richtigen Fußball vollzog ich im Spätherbst 1970. Es nieselte, ich stand mit einem Dutzend Jungs auf einem Schlackeplatz im Weimarer Industriegebiet. Ein dicker, Zigarre rauchender Mann schaute uns spöttisch an und brüllte: Dauerlauf! Stupide rannte ich im Kreis, ich lief und lief. Dabei immer Mutters mahnende Worte im Hinterkopf: Wenn du dir auf Schlacke offene Wunden holst, dringt das schwarze Zeug in deinen Körper und du wirst schwarz wie ein Neger.

Die anderen Jungs hatten solche Warnungen offenbar nicht von ihren Müttern erhalten, sie suhlten sich geradezu im Dreck. Der dicke Mann lachte und zeigte einem Trupp Arbeiter die sich balgenden Jungs in abgerissenen Klamotten. Die Arbeiter grinsten und riefen: Schleiferdidi, treib's nicht zu arg, schließlich wollen ihnen ihre Eltern heute noch ordentlich in den Arsch treten! Ich schaute erschrocken zu den Arbeitern und wünschte mich augenblicklich wieder auf den Spieler zu meinen Freunden.

Der Spieler. Für unsere Eltern der Spielplatz, für uns immer nur der Spieler. Umrahmt von Mehrfamilienhäusern aus den 30ern bot er uns Fläche für Abenteuer. In der Mitte standen vier Kastanien, nach rechts eine Rasenfläche, nach links eine noch größere Rasenfläche, irgendwo hinten metallene Spielgeräte. Die größere Rasenfläche war unser Bolzplatz. Obgleich der Spieler von allen Seiten durch Straßen umgürtet war, lauerten dort keine besonderen Gefahren. Kaum ein Mensch besaß damals ein Auto. Und wenn er eines besaß, stellte er es sorgfältig in der Garage ab, da ein Auto in der DDR-Mangelwirtschaft mindestens zwanzig Jahre halten musste. Wir lebten am Stadtrand, hinter der letzten Häuserreihe lag der Bahndamm, dahinter der Stadtwald, das Webicht.

Die einzige Gefahr bestand aus einer Gang alter Weiber, die sich periodisch aufmachten und die zwei Bänke auf dem Spieler belegen mussten. Dort tratschten sie über die Geschehnisse im Viertel, naturgemäß waren wir Fußball spielenden Kinder besonders schlimme Rotzbengel. Manchmal erklommen wir eine der Kastanien, versteckten uns dort oben und rotzten den alten Weibern von oben unauffällig auf ihre Perücken. Wir seilten nur sehr wenig Spucke ab, so dass sie uns nie etwas beweisen konnten.

Schnell stellte sich Erfolg ein, die Weiber kamen nicht mehr auf den Spieler, versammelten sich nun vorm kleinen Ladengeschäft des Kaufmanns Brüheim. Dessen HO-Kaufstelle befand sich gegenüber der nördlichsten Ecke des Spielers. Dort gab es Moskauer Eis, rote Brause, Schlager-Süßtafel. Ein Sehnsuchtsort meiner Kindheit. Brühe war uns lieber Onkel. Er lachte, wenn unser Ball gegen seine Ladenfront krachte, während die alten Weiber zitterten und zeterten. Meist stellte sich der ABV (Abschnittsbevollmächtigte der Volkspolizei) schützend neben die Herbstlaubschar und lauschte ihrer Tratscherei. Brühe hatte drei große Söhne, alle begnadete Fußballer, die später in Weimars Herrenteams brillierten.

Einmal kickte ich mit den Brüheims, die allesamt viel älter waren als wir. Hühnchen, Denis, Schniddel, Schniddels Schwester Silke und Assi gehörten zum Stamm. Zumpi durfte notgedrungen mitspielen, wenn wir nur zu fünft waren. Zumpi hatte schon im Alter von zehn Jahren weiße Haare.

Der Frank Zumpe ist herzkrank, er hat ein Loch im Herz, sagten unsere Eltern. Zumpi neigte trotz seiner schweren Krankheit zu Zornesausbrüchen. Schulsport brauchte er nie mitmachen, doch beim Kicken wollte er regelmäßig dabei sein. Er stand meist im Tor. Da er immer Geld hatte, wurde er zu einem wichtigen Faktor unserer Clique. Eines Tages war er weg. Wir trauten uns nicht seine Eltern zu fragen, ob er nun tot sei.

Unser Ball war ein schweres, olles Ding. Genähtes Leder, oben guckte manchmal die Blase raus, tat beim Köppen weh. War die Wiese noch feucht, sog er sich schnell voll Wasser. Schniddel war Chef auf dem Platz und Galan. Seine Schwester Katrin erschien jeden Tag mit drei Freundinnen. Sie kauften bei Brühe Moskauer Eis und umrundeten den Spieler, während Schniddel uns Kommandos gab. Schniddel war ein paar Jahre älter und konnte schon knutschen. Jedenfalls machte diese wichtige Information unter Hühnchen, Denis, Schniddels Schwester Silke, Assi und mir die Runde.

Manchmal guckte uns Guido traurig aus dem Fenster heimlich zu. Guido war dank seiner Oma zu höherem berufen. Er musste jeden Tag viele, viele Stunden Geige üben. Da er nur sehr selten raus durfte, wurde er auf dem Schulhof von uns gehänselt. Dann lief er heulend zu unserer Musiklehrerin, die ihm schmunzelnd über das Haar strich. Als Guido vierzehn Jahre alt war, soll er seine Oma verprügelt, und die Geige aus dem dritten Stock nach unten geworfen haben.

Das mit der Oma kann ich nicht bestätigen, die Geige lag allerdings eines Tages zerbrochen auf der Straße. Zumindest erzählten diese Geschichte die Tratschweiber vor Brühes Laden dem ABV. Der ABV entwickelte sich zu unserem Hauptfeind. Er hasste Fußball und hielt uns für jugendliche Rowdys. Statt fleißig zu lernen und den Sozialismus aufzubauen, lungerten wir auf dem Spieler herum.

Unerwartete Unterstützung erhielten wir 1974. Das Fußballländerspiel Bundesrepublik Deutschland gegen die Deutsche Demokratische Republik. Als Sparwasser sein Sparwassertor schoss, erkannte der ABV die Überlegenheit des Sozialismus und änderte sein Verhalten.

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