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Jugend trainiert Fußball. Leider nicht im Bild: Frank Willmann und Schabe Neubert.

© Imago

Willmanns Kolumne: Vor dem Horizont des Todes

Irgendwo lauert immer ein böser Mensch, der einem das Fußballspielen verbieten will. Bei unserem Kolumnisten war das in seiner Jugendzeit Schabe Neubert. Doch die Spielplatzjugend in Weimar wusste sich zu helfen.

Mit vierzehn Jahren ist das Leben kein Spaß mehr. Verhüllt in Gewänder des mausgrauen Nichts in der Ödnis meiner frühen Jahre. Ich lief mit Freunden vorbei an Einfamilienhäusern Richtung Lindenberg. Vor uns riss ein Trupp Jungerwachsener die Holzlatten vom Zaun. „Vorne steh`n die Hermsdorfer und glotzten unsere Frauen blöd an!“ Ich hatte bei den Fußballspielen unserer BSG Motor Weimar eigentlich noch nie Frauen erspäht. Aber heute kam Motor Hermsdorf, die brachten gut und gern zwanzig Fans mit. Ob die wegen der Frauen hier waren?  Hier ging es ums Ganze. Testosteronströme. Halb Weimar wallte erregt den Weg Richtung Stadion. Am Eingang wurzelte, wie immer, wenn Hermsdorf kam, breitbeinig ein Verkehrspolizist. Ein Dutzend Zaunlatten zu seinen Füßen. 

Ich glaube, im Alter von vier Jahren währte eine Sekunde meines Lebens doppelt so lang wie heute. Bei Schuleintritt dehnte sich die Zeit noch weiter aus. Es gab endlose Vormittage, durchsetzt von der Ödnis mathematischer Gleichungen und physikalischer Probleme. Ein dicklicher Lehrer mit Hornbrille peitschte uns mit unnützem Wissen. Ich wollte raus, an die frische Luft, die physischen Eigenschaften meines Körpers beim Ballspiel verbessern. Die libidinöse Gemeinschaft der Gleichgesinnten mit meiner Anwesenheit beglücken. Und von meinen Mitspielern bezaubert werden. Fußball als Notwehr gegen die Willkürherrschaft der Lehrerschaft. Unseren sozialistischen Pädagogen erzählten wir, unsere noble Absicht sei es, dem imaginären Fortschritt der progressiven Menschheit durch Fußball voran zu treiben. Fußball sei gesellschaftliche Arbeit. Unser Streben nach Vollendung kann sich nicht mit solchen banalen Zielen wie dem kleinbürgerlichen Einmaleins zufrieden geben. Wir wollten unsere Körper zu Maschinen stählen, um im Arbeitsprozess Hochleistungen zu erringen. Unsere Körper als Schlüssel im Kampf um die Übererfüllung des Großen Plans.

Gefühlsgewitter auf dem Wäschetrockenplatz

Unsere Deklaration erfüllte die Lehrerschaft mit Skepsis, doch gegen die Macht des Großen Plans konnten sie nicht anstinken und ließen uns auch in den Pausen auf dem Sportplatz bolzen. Außerdem war da noch unser Deutschlehrer, der gleichzeitig auch unser Sportlehrer war. Wir konnten ihn mit dem Gedanken `Fußball = spätgriechisches Tanzdrama` auf unsere Seite ziehen.

Vom Charme der Sportlerkörper und anderen Merkwürdigkeiten bekam ich ungefähr im Altern von vierzehn Jahren eine Ahnung. Fußball als rauschhafter Zeitvertreib, die Ästhetik von Bewegungen, die Eleganz des Spiels, das Begehren der Spieler und Zuschauer beim Wettkampf der rivalisierenden Mannschaften. Bis dahin war es ein weiter Weg. Meine ersten, großen fußballerischen Gefühlsgewitter suchten mich auf dem Wäschetrockenplatz hinterm Haus meiner Eltern heim. Wir waren von Feinden umzingelte Zwerge. Irgendwo lauerte immer ein böser Mensch, der uns das schöne Spiel austreiben wollte. Meist waren es alleinstehende Schurkinnen, die ihre Ehemänner frühzeitig ins Grab gebracht hatten, und nun an den unschuldigen Kindlein der Gegend ihr sadistisches Handwerk perfektionierten.

Schabe Neubert lauerte hinter ihren Gardinen auf ihre Chance. Wir Jungen und Mädchen, noch unbeeindruckt von unaufhaltsam herannahenden sexuellen Verwicklungen, tobten gemeinsam über den Wäschetrockenplatz zwischen den Holzstangen, die für uns Torstangen waren. Schabe Neubert hieß Schabe Neubert, weil sie die meiste Zeit des Tages mit dem Kehren des Bürgersteigs und dem Harken einer zwischen unserem Haus und dem Bürgersteig befindlichen Rasenfläche beschäftigt war. Schabe sah alles und kannte sämtliche Geheimnisse der Leute aus unserem Viertel. Sie war dabei, als wir heimlich die erste Zigarette rauchten und der erste flüchtige Kuss geschah.

Schabe Neubert war eine Schurkin reinster Blüte

Eine ihrer selbstgestellten Aufgaben war der fußballfreie Wäschetrockenplatz. Sie hatte verschiedene Taktiken entwickelt, um uns fern zu halten. Schabe wusch täglich, lüftete in Terrorregimemanier ihr Federbett ausgiebig auf dem Trockenplatz und war in der Wahl ihrer Mittel nicht zimperlich. Deshalb nannten wir sie auch Maulschellenschabe. Sie war eine Schurkin reinster Blüte. Trotzdem tricksten wir sie aus. Dabei kam uns der Briefträger zu Hilfe. Der arme Kerl konnte ihr nicht ausweichen, vielleicht wollte er es auch nicht. Sie verwickelte ihn stets in banale Gespräche über die schrecklichen Geschehnisse im Viertel. Der hat seine Katze raus gelassen, die eine Kippe auf den Bürgersteig geworfen, jener nachts um drei besoffen gegen die Hauswand gepisst. Darüber vergaß sie uns und den Wäschetrockenplatz.

Wir sprinteten nach hinten und gaben uns ganz der Gefährdung unserer Gesundheit mittels Fußball hin. Das Spannende des Fußballs vollzieht sich vor dem Horizont des Todes. Als wir älter wurden, wechselten wir die Hausseite und kickten fortan auf dem Spielplatz. Als wir noch älter wurden, drapierten wir unsere Kippen sorgfältig auf dem Bürgersteig, ließen nachts die Katzen raus und pinkelten selbstverständlich nach der Disco an die Hauswand. Aber das ist eine andere Geschichte.

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