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Fertig machen zum Jubeln. Schiedsrichter Robert Kampka nimmt ein Tor der Wolfsburger zurück, die Spieler von Hertha BSC registrieren es mit Wohlwollen.

© imago/osnapix

Wird der Test vorzeitig beendet?: Videobeweis: Der Widerstand wächst

Beim Spiel von Hertha BSC in Wolfsburg werden zwei Tore des VfL aberkannt. Zu Recht - trotzdem wächst der Widerstand gegen den Videobeweis.

Der zweite Treffer des VfL Wolfsburg gegen Hertha BSC wäre ein klarer Fall für den Videoassistenten gewesen. Der Wolfsburger Stürmer stand bei seinem Kopfball auch deshalb so hoch in der Luft, weil er mit beiden Händen auf der Schulter des Berliner Verteidigers Schwung geholt hatte. Ein klares Foul; doch das Tor zählte. Anders als zuvor auf der anderen Seite, als der Schiedsrichter ein wesentlich geringeres Vergehen sanktioniert und Hertha einen Treffer versagt hatte. Warum der Videoassistent nicht eingegriffen hatte? Ganz einfach: weil es vor achteinhalb Jahren, im Februar 2009, noch keinen Videobeweis gab. Mit Videobeweis hätte es damals vermutlich keine 1:2-Niederlage von Hertha BSC beim VfL Wolfsburg gegeben, sondern einen 2:1- Erfolg – und vielleicht wäre am Ende der Saison nicht der VfL Wolfsburg Deutscher Meister geworden, sondern Hertha BSC. Unter den Anhängern des Berliner Fußball-Bundesligisten erfreut sich diese kontrafaktische Geschichtsschreibung bis heute einiger Beliebtheit.

Insofern müssten Herthas Fans am Sonntagabend doppelt froh gewesen sein, dass ihr Team mit einem 3:3-Unentschieden aus Wolfsburg nach Berlin zurückkehrte – obwohl der VfL fünf Tore geschossen hatte. Im Unterschied zu 2009 gibt es inzwischen den Videobeweis, und im Unterschied zu 2009 konnte eine höhere Instanz Schiedsrichter Robert Kampka zweimal vor einem folgenschweren Fehler bewahren. „Es war schon verrückt“, sagte Herthas Defensivspieler Niklas Stark. „Aber es war auch alles regelkonform.“

Stefan Reuter fordert einen Runden Tisch

Alles gut also? Von wegen! Der Videobeweis in Wolfsburg funktionierte so, wie er funktionieren sollte – und trotzdem nährten die Geschehnisse die Zweifel, die in der Bundesliga in den vergangenen Tagen und Wochen deutlich zugenommen haben. Dieter Hecking, der Trainer von Borussia Mönchengladbach, hat sich am Samstag als entschiedener Befürworter des Videobeweises zu erkennen gegeben und zugleich seine Befürchtung geäußert, dass er bereits in der Winterpause wieder abgeschafft werde: „Wir tun alles dafür, dass er nicht kommt.“ Die Ablehnung wächst. Stefan Reuter, der Sportdirektor des FC Augsburg, hat sogar schon einen Runden Tisch aller Beteiligter gefordert.

Seit Beginn der Testphase ist einiges zusammengekommen: technische Probleme, unklare Auslegungen durch den Deutschen Fußball-Bund, ungeschickte Handhabung durch die Schiedsrichter und Videoassistenten selbst, dazu wohl auch die atmosphärischen Spannungen innerhalb der Schiedsrichtergilde mit Hellmut Krug, dem bisherigen Projektleiter, im Mittelpunkt. „Es ist schlimmer statt besser geworden“, findet Fredi Bobic. Und mit dieser Einschätzung steht der Vorstand Sport von Eintracht Frankfurt keineswegs allein da.

Am Sonntag in Wolfsburg wurden der Heimmannschaft beim Stand von 0:1 innerhalb von 22 Minuten zwei Tore aberkannt. Es war nicht die Tatsache an sich, die das Publikum auf die Barrikaden brachte, es waren die besonderen Umstände. In der Arena war zweimal das übliche Programm abgelaufen: Jubel, Torhymne, Verkündung des Torschützen und des neuen Spielstands durch den Stadionsprecher. Der Ball lag bereits im Mittelkreis, und die Mannschaften machten sich zum Anstoß bereit, als der Schiedsrichter mit dem Monitorsymbol in die freudige Stimmung platzte. Zweifel an der Rechtmäßigkeit der beiden Treffer durch Mario Gomez und Yunus Malli hätten Robert Kampka und seinem Assistenten eigentlich schon bei realer Geschwindigkeit kommen können und müssen. In beiden Fällen lag eine strafbare Abseitsstellung vor. Gomez, dem kurz vor der Pause das zwischenzeitliche 2:1 für den VfL gelang, erzählte später lakonisch, er habe bisher vier Saisontreffer erzielt – drei seien vom Videoassistenten wieder aberkannt worden.

Für Rudi Völler ist der Videobeweis ein Stimmungskiller

Die Wolfsburger Anhänger nahmen die Sache nicht ganz so gelassen zur Kenntnis. Nach dem zweiten Coitus interruptus wurde die Stimmung in der Arena ungemütlich. „Ihr macht unser’n Sport kaputt!“, brüllten die Fans des VfL. Und die Anhänger aus Berlin, obwohl in diesem Fall Profiteure des Videobeweises, stimmten mit ein. Anschließend beschimpften beide Seiten gemeinsam den DFB.

Erfahrungen wie in Wolfsburg nähren die Skepsis vor allem unter den Stadionbesuchern. Während viele Trainer und Funktionäre den Zuwachs an Gerechtigkeit hervorheben, fremdeln die Fans mit den neuen Begebenheiten: Wann dürfen wir denn unfallfrei jubeln, nachdem unsere Mannschaft ein Tor erzielt hat? Als die Wolfsburger zum dritten Mal das 1:1 erzielt hatten und der Treffer tatsächlich zählte, wurde das Tor ein zweites Mal von den Anhängern sarkastisch bejubelt. „Für uns war’s auch komisch“, sagte Herthas Innenverteidiger Sebastian Langkamp. Niklas Stark gab immerhin zu: „Man freut sich schon ein bisschen.“ Und Trainer Pal Dardai sprach sich dafür aus, die strittigen Szenen auch im Stadion auf den Videoleinwänden zu zeigen. Davon aber hat der Weltverband Fifa abgeraten.

So geht dem Stadionerlebnis durch den Videobeweis die Unmittelbarkeit verloren. Das stört nicht nur Fans, sondern auch Spieler, Trainer, Funktionäre. „Der gehört weg“, hat Freiburgs Stürmer Florian Niederlechner vor einer Woche gefordert. „Einfach der ganz normale Fußball soll wieder gespielt werden.“ Rudi Völler, Sportdirektor von Bayer Leverkusen, hat den Videobeweis in der „Sport-Bild“ als „Stimmungskiller“ bezeichnet, der nur schwer zu ertragen sei. Und Fritz Keller, Präsident des SC Freiburg, forderte im SWR: „Mann aus dem Ohr, Stecker ziehen, Fußball spielen, Entscheidungen im Stadion und sonst nichts.“

Im März entscheidet die Fifa, wie es weitergeht

Was leicht vergessen wird: Der Videobeweis befindet sich immer noch in der Testphase. Erst im März will der Weltverband Fifa über die endgültige Einführung entscheiden. Dabei wird mit Sicherheit auch eine Rolle spielen, ob es im deutschen Fußball rasch gelingt, die offenkundigen Ungereimtheiten zu beheben. Bei der Einführung des Videobeweises hatte es beispielsweise noch geheißen, die Maxime laute, mit minimalen Eingriff den maximalen Erfolg zu erzielen. Inzwischen haben viele den Eindruck, dass die Eingriffe so massiv sind, dass sich der Charakter des Spiels verändert – auch weil die Vorgabe, wann das neue Hilfsmittel eingesetzt wird, offenbar nicht stringent umgesetzt wird. Bei klaren Fehlentscheidungen sollte dem Schiedsrichter auf dem Platz vom Videoassistenten in Köln geholfen werden. Stattdessen empfinden viele den Assistenten vor den Monitoren längst als eine Art Supervisor, der die eigentlich Spielleitung inne hat.

Fredi Bobic hat am Wochenende bemängelt, dass „der Videobeweis inflationär verwendet“ wurde. Diesen Eindruck hatten also offenbar nicht nur die Anhänger des VfL Wolfsburg.

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