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Fifalos glücklich. Für ein gemütliches Fanfest braucht es den Weltverband nicht.

© Philipp Lichterbeck

WM 2014 - Rio de Janeiro: Das Fanfest hinter dem Fanfest an der Copacabana

Jenseits der eisernen Zäune des Fifa-Fanfests an der Copacabana versammeln sich Fans aller Länder, um die WM-Partien zu verfolgen. Ein Stück Freiheit für fünf Reais – ein Ortsbesuch.

Am zweiten Tag der Weltmeisterschaft hatte er verstanden. Am dritten Tag drehte er seine Stühle vom Meer weg und ließ sie landeinwärts schauen, auf die Promenade, die Hotels, in denen sich die Sonne spiegelt. Er hatte verstanden, dass die beste Aussicht dieses Winters nicht der Blick auf den Atlantik ist. Am vierten Tag fuhr er noch einmal zu seinem Lagerraum in der Nordzone Rios und lud auch die restlichen Stühle in seinen Wagen. Stühle, die er sonst nur im Sommer braucht, wenn die Hitze, 40 Grad oder mehr, das Fleisch an den Strand treibt.

Paulo hatte verstanden, dass die Leute wegen der Leinwand kommen werden. Diesem Fernsehbild in Überdimension, das sie hier auf den Strand gestellt haben. Die Leute von der Fifa. Diese Leinwand, die man auch von seinen Stühlen aus noch ganz wunderbar sehen kann. Die Leinwand, sagt Paulo, könnte ihn über den Winter bringen.

Das Fifa-Fanfest an der Copacabana, Volksschauen auf Sand, ist der Versuch, die Grenzen der Euphorie zu bestimmen. Die Leinwand, die Jubelmenschen, sie werden umgeben von einer Wand aus Metallplatten, etwa zwei Meter hoch, um die nach der ersten Woche noch ein Zaun gezogen wurde. Dunkle Eisenstäbe, oben mit Zacken bewährt, Stacheln aus Draht, an denen man sich die gute Laune aufreißen kann.

Und es ist nicht ganz klar, ob damit nun die Menschen draußen aus- oder die Menschen drinnen eingesperrt wurden.

Das, sagt Paulo, ist nicht die brasilianische Mentalität. Grenzen, Zäune, Enge. Was soll das? Das sollte doch, bitteschön, ein Fest für alle sein. Die große Freiheit.

Bei Paulo kostet sie fünf Reais. Ein Stuhl, rote Kunststofffasern auf Metall gespannt. Fünf Reais. Für einen Tag, ein paar Stunden. Oder eben: 90 Minuten. Paulo besitzt 250 Stühle. Er hat sie direkt neben den Zaun gestellt, etwas seitlich versetzt.

Ein Vielvölkerfest, das aber auch im Freiraum streng bewacht ist

Paulo ist einer der Männer, ein halbes Dutzend vielleicht, die den Strand am Fanfestzaun unter sich aufgeteilt haben, die Stuhlreihen ziehen sich so über mehrere hundert Meter den Strand hinunter, wobei die Grenzen jedoch so fließend sind, wie der Sand selbst.

Sichere Sache. Argentinische Fans unter brasilianischer Aufsicht.
Sichere Sache. Argentinische Fans unter brasilianischer Aufsicht.

© Philipp Lichterbeck

Da sind wir nicht so, sagt Paulo. Nimm einen Stuhl, hier, sagt er. Setz dich dahinten hin. Ganz egal, sagt er. Tudo bem!

So mischen sich die Farben der Stühle, das Gelb, das Rot, das Blau, wie sich auch die Nationen mischen. Die Menschen, die hier Schulter an Schulter sitzen, in ihren Trikots, Deutschland, Iran, Japan, USA, dass es aussieht, als wären die Vereinten Nationen auf Strandurlaub.

Die Stühle neben dem Zaun, sie sind zum eigentlichen Fest der Fans geworden. Ungezwungen, anarchisch. Wo zwischen den Stühlen die Bilder entstehen, die seitdem um die Welt geschickt werden, wenn taumelnde Chilenen, Kolumbianer, Brasilianer ihr Temperament in den Wellen kühlen, im Sand tanzen, sich den Ball zuspielen. Hochhalten mit der Weltkugel.

Ein Vielvölkerfest. Das aber auch hier draußen, im Freiraum streng bewacht ist. In einem Abstand von etwa 200 Metern hat die PM, die Militärpolizei, Hochstände eingerichtet, schmucklose Plattformen aus Stahl und Holz, bisschen Plane gegen das Licht. Sie patroulliert zwischen den Stühlen. Und ihre Bewaffnung, die Uniform, wirkt zwischen den Halbnackten noch absurder, monströser. Kevlar-Westen wie Panzer. Schlecht gelaunte Schildkröten auf einer Strandparty.

Die argentinischen Fans stellen die Mehrheit.
Die argentinischen Fans stellen die Mehrheit.

© Philipp Lichterbeck

Sie sind wichtig, sagt Paulo. Ohne sie geht es nicht.

Ausgelassenheit und Alkohol. Die bunte, wilde Mischung, sie ist auch Lockstoff für die Trickster der Promenade, die Jungs aus den Hügeln.

Solange die Schildkröten über den Strand schleichen, bleibt das Fest ein sicheres.

Der Strand am Zaun ist eine argentinische Enklave

Und Paulo verkauft seine Stühle, und verkauft seine Sandwiches und Bier in Dosen dazu. An guten Tagen, sagt Paulo, macht er hier 2000 Reais. Die Leinwand, sie bringt ihn vielleicht über den Winter, der sonst kalt ist, auch bei 28 Grad. Sie ist, vier Wochen lang, kann man so sagen, seine Sonne.

Auch an diesem Tag hat er fast alles Stühle vermietet.

Paulo schaut auf dieses Meer voller Menschen, tausend Gesichter zur Leinwand. Das ist schon der Wahnsinn, sagt er.

Und weil bei dieser WM hier in Rio vor allem die Argentinier im Wahnsinn zuhause sind, ist das hier, natürlich, ihr Heimspiel.

Sie sind die Meisten, die Lauten, die Überzeugten. Der Strand am Zaun, er ist, seit Beginn des Turniers bereits, eine argentinische Enklave. Hoheitsgebiet in Himmelblau. Albiceleste. Sie sind an diesem Tag, zum Spiel gegen die Schweiz, wieder zu Hunderten hier. Zittern, hoffen, greifen sich in die Gesichter, als versuchten sie ihren Zügen das Bangen zu verbieten. 120 Minuten fast.

Sie sind hier eingefallen, sagen die Brasilianer. Haben die Copacabana besetzt.

Und nun, auch einen der Hochstände erobert. Mit einer Kapelle, einem Spielmannszug, Pauken und Trompeten, der den Strand heraufgezogen ist, die Töne im Wind. Freibeuter mit Dreispitz und Messi-Trikot, eine blecherne Tuba vor den schon wunden Lippen. Sie klettern hinauf, spielen einen Marsch. Hinter dem Zaun das Spiel. Egal. Die Musik, sie spielt hier.

Wie viele sie wirklich sind, diese Argentinier, verrät erst der Jubel. Wer sitzen bleibt, gehört nicht zu ihnen. Kaum jemand sitzt noch.

Als dieses Spiel vorbei ist, di Maria, die Erlösung, tragen sie eine Flagge, ein zweiter Himmel über ihren Köpfen, in den Atlantik. Wogen, Wellen, Begeisterung. Trägt die Kapelle ihre Trommeln den Strand hinunter, beginnt das Singen, ertrinken sie in Erleichterung.

Und Paulo klappt zwei, drei Stühle zusammen. Baut woanders neue auf.

Noch zwei Wochen, dann sind die Argentinier wieder in Argentinien. Dann ist die Leinwand aus. Dann beginnt auch für ihn der Winter.

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