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Rafael Benitez, 54, hat mit dem SSC Neapel zuletzt den italienischen Pokal geholt. Zuvor trainierte der Spanier unter anderem Liverpool, Inter Mailand und Chelsea.

© picture alliance / dpa

WM 2014 - Trainer Rafael Benitez im Interview: "Natürlich kann Brasilien das Turnier gewinnen"

Rafael Benitez, der Trainer des SSC Neapel über müde Stars, ökonomischen Fußball bei der Hitze in Brasilien und den Wert der Bankspieler.

Rafael Benitez, fühlen Sie sich bislang gut unterhalten von dieser WM?

Als Trainer erwarte ich kein Entertainment. Aber ich muss schon sagen, ich bin positiv überrascht. Dass wir so viele temporeiche, hart umkämpfte Spiele sehen würden, hätte ich nicht gedacht.

Warum waren Sie denn anfangs skeptisch?

Die Top-Spieler haben ja einiges hinter sich. 50, 60 Einsätze pro Saison, und bei jedem einzelnen Spiel lastet der enorme Druck auf den Stars, unbedingt gewinnen zu müssen. Einige sind angeschlagen ins Turnier gegangen, Cristiano Ronaldo, Diego Costa, auch Luis Suarez. Zudem wird in den Nationalmannschaften größtenteils ein anderer Fußball gespielt, als sie es aus ihren Vereinen gewohnt sind. Darauf stellt man sich nicht so leicht um, jedenfalls nicht innerhalb von zwei Wochen am Ende einer kräftezehrenden Saison.

Früher waren Weltmeisterschaften die Leistungsschau des Fußballs, dort sah man das Spiel des Augenblicks, wenn nicht sogar der Zukunft.

Das hat sich geändert. Die Avantgarde sehen wir heute in den Top-Vereinen, vor allem in der Champions League. Lange war es der FC Barcelona, nun scheint es der FC Bayern unter Pep Guardiola zu sein, auch Borussia Dortmund und Atletico Madrid haben neue Impulse gesetzt. Bei den Nationalmannschaften geht es mittlerweile darum, einen pragmatischen Weg zu finden: Welche Taktik setzen alle Spieler gleich gut um? Wie können Stars, die herausragen, in die Mannschaften integriert werden, ohne ihre besonderen Qualitäten einzubüßen? Ein Problem, das sich vor allem bei Spielern wie Lionel Messi und Cristiano Ronaldo immer wieder stellt. Und vor allem: Wie steht man dieses Turnier durch, ohne einzubrechen?

Hitze und Luftfeuchtigkeit sind enorm.

Aber noch scheinen die meisten Mannschaften diesen Herausforderungen zu trotzen. Einige Spieler wachsen sogar über sich hinaus. Ich denke etwa an Arjen Robben, den wir dort in der Form seines Lebens sehen, auch an Jungstars wie James Rodriguez von Kolumbien oder Joel Campbell von Costa Rica. Aber noch ist das Turnier ja nicht vorbei. Jetzt kommen die K.-o.-Spiele, die Verlängerungen, die Elfmeterschießen. Das sind Momente, in denen die Spieler über ihre Leistungsgrenzen gehen müssen. Dann wird es darauf ankommen, wer mit seinen Kräften sinnvoll gehaushaltet hat.

Wer spielt bisher am ökonomischsten?

Die Italiener. (Lacht)

Ja, gut, die haben sich bereits komplett in den Schatten zurückgezogen.

Im Ernst: Beim 2:1 gegen England dachte ich noch, das sei der typische italienische Minimalismus, verkörpert von Andrea Pirlo: den Ball da hinspielen, wo er sein muss, bloß nicht zu viel laufen. In den zwei Spielen danach wurde aber klar: Sie wollen nicht nur nicht mehr tun, sie können gar nicht. Diese Mannschaft war überaltert. Sie braucht einen Umbruch. Cesare Prandelli hätte ihn vollziehen können. Schade, dass er zurückgetreten ist. Er ist ein großer Trainer, ein großer Sportsmann.

Wer macht es besser als die Italiener?

Die Deutschen sind im Spiel gegen Portugal viel gelaufen, aber keinen Meter zu viel, wie mir schien. Gegen Ghana ist ihnen die Sache dann ein bisschen entglitten, ab der 70. Minute wurde auf beiden Seiten gekontert. Für den Zuschauer war das toll, ein verrücktes Spiel! Aber wenn man das Ganze unter dem Aspekt der Turnierökonomie betrachtet, sind derartig viele Sprints natürlich nicht wünschenswert.

So gesehen ist das, was die Chilenen bei dieser WM machen, ja blanker Selbstmord.

In den ersten beiden Spielen waren ihre Kampfbereitschaft und ihre Selbstaufopferung geradezu furchteinflößend. Ihr Nationalstolz und ihre mannschaftliche Geschlossenheit scheinen sie zu tragen. Aber schon gegen die Niederlande sah man die ersten Verschleißerscheinungen. Jetzt erwartet sie im Achtelfinale Brasilien, der Favorit. Dem können sie nur gefährlich werden, wenn sie wieder bei 100 Prozent sind.

Und anschließend sind sie womöglich so erschöpft, dass sie im Viertelfinale untergehen. Wird das die WM der Pyrrhussiege?

Das wäre nichts Neues. Denken Sie an die Dänen bei der WM 1986: Die haben alle drei Vorrundenspiele gewonnen, unter anderem gegen die Deutschen, und das in der Hitze Mexikos. Und dann verlieren sie im Achtelfinale gegen Spanien mit 1:5. Wie gesagt: Man muss mit seinen Kräften haushalten. Nicht der Beste wird Weltmeister, sondern der Schlaueste.

Joachim Löw wechselte im Ghana-Spiel beim Stand von 1:2 Miroslav Klose ein, und der machte prompt den Ausgleich. Auch Belgien, die Niederlande und die USA durften sich über Joker-Tore freuen. Wird diese WM auch von der Bank aus entschieden?

Das wird ein wichtiges Momentum sein, besonders in der K.-o.-Phase. Was wie Glück aussieht, führt uns zwei Dinge vor Augen: Die Breite des Kaders ist wichtiger denn je. Bei Portugal etwa war sie nicht vorhanden, nicht zuletzt deshalb konnte das Team nicht überzeugen, Und der Trainer muss flexibel sein, er muss ein Spiel lesen können und gegebenenfalls von seiner Anfangstaktik abrücken. Marc Wilmots hat das toll gemacht, auch Louis van Gaal und Jürgen Klinsmann.

Joachim Löw spricht von seinen Einwechselspielern als „Spezialkräften“.

Da sehen Sie, wie wichtig die Bank geworden ist und welche Wertschätzung Ergänzungsspieler inzwischen genießen. Da sitzen nicht mehr die nicht so guten Spieler, die es nicht in die erste Elf geschafft haben, sondern diejenigen, deren Einsatz in einer späteren Phase des Spiels einfach sinnvoller ist. Vergessen Sie auch nicht den psychologischen Effekt: Wenn Löw einen Klose bringen kann, der in fast jedem Spiel trifft, dann flößt allein das dem Gegner Respekt ein – zu einem Zeitpunkt, da er bereits körperlich geschwächt ist.

Apropos Psychologie: Kann Brasilien überhaupt Weltmeister werden? Das Finale findet im Maracana statt, dem Ort des 1:2 gegen Uruguay bei der WM 1950, der schlimmsten Niederlage in der Geschichte der Seleçao. Noch heute soll ein Fluch über dem Stadion liegen.

Na ja, sie haben es ja vorsichtshalber umgebaut. (Lacht) Und Neymar und seine Freunde scheinen sich auch nicht besonderes viele Gedanken darüber zu machen, was vor 64 Jahren war. Sehr lockere Typen. Außerdem hat ihr Trainer Luiz Felipe Scolari 2002 schon einmal die WM gewonnen, er weiß, wie man Druck kompensiert. Also: Natürlich kann Brasilien dieses Turnier gewinnen.

Und die Deutschen?

Die auch, ohne Frage. Gab es das überhaupt schon mal, dass man sagen konnte: Die Deutschen können nicht Weltmeister werden? Ich kann mich nicht erinnern.

Am Ende werden’s die Griechen, weil an ihrem Bollwerk alle erschöpft zusammengebrochen sind.

Das wäre ein trauriger Tag für den Fußball.

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