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Der Handshake Gottes.

© imago sportfotodienst

WM 2014 - Zwei Typen, zwei Welten: Das Versöhnungsangebot von Maradona an Thomas Müller

Diego Maradona verhöhnte einst Thomas Müller, doch heute lobt er ihn öffentlich. Zwei Typen, zwei Lebenswelten. Trotzdem streifen sich die beiden immer wieder. Vielleicht, weil sie doch ähnlicher sind, als man zunächst glaubt.

Da ist der eine, kugelig schon, als er noch spielte. Doch der Ball klebte an seinem Fuß, und er kannte Tricks, die niemand sonst kannte. Er wuchs auf in der Millionenmetropole Buenos Aires, später zog er nach Barcelona und Neapel. In Mexiko-City schoss er das Tor des Jahrhunderts, zurück in Buenos Aires inszenierte er sein Leben als große Oper: Frauen, Gesänge, Drogen, Abstürze, Tränen.

Dann ist da der andere, ein schlaksiger Typ aus Weilheim in Oberbayern. Er heiratete ein Jahr nach dem Abitur seine Jugendliebe. Sie mochte kein Prada oder Gucci, sondern Pferde. Er liebte Fußball, immer schon. Früher, als Kind, spielte er bei einem Klub namens TSV Pähl, mit elf Jahren ging er zum FC Bayern und blieb dort bis heute. Diego Maradona und Thomas Müller – zwei Typen, zwei Lebenswelten. Trotzdem streifen sich die beiden immer wieder. Vielleicht, weil sie doch ähnlicher sind, als man zunächst glaubt.

Es begann alles am 3. März 2010. Thomas Müller und Diego Maradona sollten sich nach einem Freundschaftsspiel zwischen Deutschland und Argentinien auf der Pressekonferenz den Fragen der Journalisten stellen. Für Müller war das Neuland, für Maradona Routine, tausendmal erlebt, Seite an Seite mit dem „Who is who“ der Fußballwelt. Nächste Frage, bitte.

Maradona sah Müller als Lausbuben an

Doch dieses Mal geriet die Sache ein wenig aus der Bahn. Als Maradona das Podest erklomm, saß dort ein Junge. Dieser hatte zwar kurz zuvor knapp 70 Minuten vor seinen Augen Fußball gespielt, doch Maradona erkannte ihn nicht. Wer war das? Ein Schüler oder Praktikant vielleicht, der sich verirrt hatte. Ein Balljunge, der sich heimlich auf das Podium geschlichen hatte. Maradona meckerte ein bisschen und verzog das Gesicht. Er war es gewohnt neben einem Kaiser, einem General oder zumindest neben Jogi Löw zu sitzen, nicht aber neben einem „pillo“, einem Lausbuben. Also verließ Maradona das Podium.

Müller blickte irritiert drein, vermutlich dachte er ebenfalls an einen Scherz, immerhin gibt es mittlerweile zahlreiche Männer, die als Maradona-Double ihr Geld verdienen. Doch der kugelige Mann, der die Bühne hinabstieg, war der echte Maradona, der Mann mit dem Jahrhunderttor, die Zehn, El D10S, Gott. Und dieser Gott hatte ihn, den 20-jährigen Buben aus Weilheim, für nicht ebenbürtig befunden. Nicht mal für begrüßenswert. So verschwand auch Thomas Müller erst einmal, während Maradona, der die Wartezeit mit dem Schreiben von Autogrammen überbrückt hatte, zurück aufs Podest stieg.

Es vergingen vier Monate, bis sich die beiden erneut trafen, doch für Maradona war es kein gutes Wiedersehen. Am 3. Juli 2010, um 16:03 Uhr im Green-Point-Stadion in Kapstadt, zirkelte Bastian Schweinsteiger einen Ball scharf in den Strafraum und Müller hielt seinen Kopf hin, 1:0, nach drei Minuten, im Viertelfinale der WM 2010.

Vier Jahre später ist Müller ein Weltstar

Deutschland gewann an jenem Abend 4:0, und die argentinische Sportzeitung „Ole“ schrieb einen Tag später: „Diego, der Junge heißt Müller!“ Maradona flog nach dem Spiel nach Hause, er wurde entlassen und wieder schimpfte und pöbelte er. Müller, der wenige Tage zuvor noch seine Omas im Fernsehen gegrüßt hatte, machte noch ein weiteres Tor im Turnierverlauf und wurde mit insgesamt fünf Treffern Torschützenkönig. Ein paar Monate nach dem Turnier sagte er, dass er das lustig fand mit Maradona damals in München. Und seine Omas sagten: „So ein lieber Bua!“

Vier Jahre später ist Thomas Müller ein Weltstar. Er ist WM-Dritter geworden, hat mit dem FC Bayern die Champions-League, den Weltpokal und drei Meisterschaften gewonnen. Dieser Müller ist nun 24 Jahre alt, und in Deutschland verehren sie ihn. Seit seinen drei Toren gegen Portugal kursieren im Internet Bilder, auf denen Fans vor Werbeplakaten oder Einzelhandelsketten mit dem Namen „Müller“ niederknien. Der heilige Müller. Wie damals, in Neapel oder Mexiko: der heilige Diego.

Schon immer huldigten Fußballfans Spielern, die nicht reinpassten in den klassischen Spielersetzkasten, die krumme Beine und Übergewicht hatten (Diego Maradona) oder aussahen wie „wandelnde Heuschrecken“ (der Künstler José Miguel Wisnik über den Brasilianer Sócrates).

An Ronaldo ist nichts fehlerhaft. Er ist perfekt.

Was für Diego Maradona oder Sócrates gilt, trifft auch auf Thomas Müller zu: Er ist nicht perfekt, manchmal bewegt auch er sich wie eine Heuschrecke über den Platz, er wählt statt dem doppelten Übersteiger den einfachen Haken und den schnellen Abschluss, und er jubelt so, wie Fußballer früher, in den Siebzigern, gejubelt haben. Die Faust im Himmel, den Mund weit aufgerissen, the good old times. Im modernen Fußball, perfektioniert und choreografiert, wirkt er beinahe anachronistisch, aus der Zeit gefallen – und vermutlich gerade deswegen so bewundernswert. Wie ein Geigenbauer auf einer W-Lan-Party.

Vielleicht muss gerade deshalb einer wie Cristiano Ronaldo immer um Anerkennung betteln, denn die Leute goutieren zwar seine Tore, doch sie knien nicht vor ihm nieder wie früher bei Maradona oder Sócrates, nicht mal wie bei Messi oder Thomas Müller heute. Denn an Ronaldo ist nichts fehlerhaft. Er ist perfekt. Statur, Schusstechnik, Tricks, Frisur. Wie eine Maschine.

Es wäre Zeit für ein erneutes Wiedersehen

Auch Maradona hat das gesehen, denn so sehr er sich in lauten Machismo und populistisches Gebelle verrennt, so sehr liebt er auch einen Fußball, wie ihn Thomas Müller spielt. Vier Jahre nach ihrem letzten Aufeinandertreffen wäre es Zeit für ein erneutes Wiedersehen. Maradona schickte nach Deutschlands 4:0 gegen Portugal schon mal eine Grußbotschaft, die fast wie ein Versöhnungsangebot klang: „Thomas Müller hat keine Muskeln, aber heute hat er unglaublich stark gespielt.“

Ein Satz, mit dem man eigentlich auch die aktive Zeit des ewig pummeligen Maradona umschreiben könnte, den er, der Macho aus Buenos Aires, aber strikt ablehnen würde. Schließlich ging es in der Karriere des Diego Maradona vornehmlich um eines: die Muskeln spielen zu lassen.

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