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Digitalisiert. Über zu wenige Handyfotos im Netz kann sich niemand beschweren.

© dpa

WM 2018: Von Smartphone bis Selfiestick: Fußball ohne Handy? Bei der WM in Russland eine schöne Utopie

Ein Trend setzt sich fort: Bei der Weltmeisterschaft in Russland ist das Smartphone omnipräsent. Alles und jeder wird fotografiert, auch unser Autor.

Wie oft ich in Russland mittlerweile fotografiert worden bin, kann ich nicht genau sagen, ich tippe aber auf eine Zahl im oberen fünfstelligen Bereich. Und nein, das liegt nicht daran, dass ich besonders witzig angemalt bin oder einen Sombrero mit eingebautem Tequila-Spender auf dem Kopf trage, im Gegenteil, meistens spaziere ich mittelmäßig gelaunt durch die Gegend. Die Sache ist allerdings: Nahezu jeder Fußballfan zwischen Kaliningrad und Jekaterinburg hat sein Smartphone im Dauerfeuermodus.

Den Finger ununterbrochen auf dem Kamera-Auslöser, den Blick starr auf dem Bildschirm. Das Resultat ist faszinierend: Menschen machen Fotos von Menschen, die Fotos machen von Menschen, die Fotos machen von Menschen, die Videos machen. Mit dem Datenmüll, der in diesen Tagen in Russland produziert wird, könnte man die Internetserver der USA für das nächste Jahrzehnt lahmlegen.

Ich klinge wie ein alter, verbitterter Mann, der sich jeder technischen Neuerung verweigert und seit Jahren sehnlich auf das Comeback von Telex und Pferdekutsche wartet? Mag sein, bloß hier spielen sich wirklich skurrile Szenen ab. Am Freitag bin ich einer Gruppe von marokkanischen Fans auf dem Weg ins Sankt-Petersburg-Stadion gefolgt.

Ungleiches Spiel: Smartphone vs. Profikamera

Die ganze Strecke über hielten die Fans ihre Smartphones beliebig in die Gegend und machten Bilder. Einmal blieben sie stehen und bejubelten ein Motiv, als hätten sie Atlantis entdeckt. Dabei war da einfach ein Mann mit einer seltsamen Frisur, die ein wenig an Dieter Bohlens Frühphase und Abel Xaviers Spätphase erinnerte. Die Fans machten 1538 Fotos (Schätzwert). Danach machte der Mann mit der seltsamen Frisur 74 Videos (Schätzwert) von der Gruppe.

Süchtig. Auch Argentiniens Nationaltrainer Jorge Sampaoli kann nicht ohne Handy.
Süchtig. Auch Argentiniens Nationaltrainer Jorge Sampaoli kann nicht ohne Handy.

© Cezaro De Luca/dpa

Und schließlich bat ein Fernsehteam die lustige Gruppe vor ihre dicken Profikameras. Für die Fans war das natürlich keine einfache Situation, denn sie mussten natürlich filmen, wie sie gefilmt werden. Die Lösung: Der Reporter hielt sein Mikrofon in der einen Hand und das aufnahmebereite Smartphone eines Fans in der anderen. Auf 89 Prozent dieser ganzen Film-/Foto-/Selfie-Parade bin ich übrigens zu sehen. Meistens vermutlich über mein Smartphone gebeugt, um eines meiner mittelmäßigen Bilder bei Instagram zu teilen.

Dass Menschen bei öffentlichen Veranstaltungen sehr viel fotografieren, ist kein neues Phänomen. Angefangen hat es 2007, als das erste Smartphone in die Läden kam. Auch 2010 und 2014 haben die Fans Terabyte große Datenmengen aus Südafrika und Brasilien mit nach Hause gebracht. Dieses Jahr aber erleben wir eine neue Dimension der Smartphonisierung.

Fotografieren statt Erleben

Die Technik ist ausgereifter, die Apps nutzerfreundlicher, das Internet billiger und schneller. Einige Fans haben Go-Pros an ihre Fahnenstöcke befestigt, andere filmen stereo mit zwei Smartphones gleichzeitig. Man würde sich nicht wundern, wenn die Spieler demnächst mit Selfiesticks aufs Feld laufen.

Die Menschen sind vornehmlich damit beschäftigt, einen Moment zu dokumentieren anstatt ihn wahrhaftig zu erleben. Sie laufen schon filmend oder fotografierend auf ihn zu, und nur wenn danach noch Zeit bleibt, schauen sie kurz auf, um sich zu vergewissern, dass sie ihr Bildschirm nicht angelogen hat. Man möchte ihnen zurufen, das ist echt, etwas Unmittelbares, etwas Direktes, und du kannst es live erleben. Aber vermutlich reagieren sie nur auf Kommentare unter ihren Instagram-Posts oder Youtube-Videos.

Bei Konzerten nervt die Dauerfotografiererei viele Musiker mittlerweile so sehr, dass sie ihr Publikum auffordern, die Smartphones stecken zu lassen. Die Sängerin Adele sagte bei einem Auftritt zu einer Besucherin: „Könnten Sie endlich aufhören, mich zu filmen? Ich stehe leibhaftig hier. Das ist keine DVD, das ist ein richtiges Konzert.“ Jack White, ehemaliger Sänger der White Stripes, beauftragt für seine Shows sogar ein Start-up-Unternehmen, das am Einlass sämtliche Digitalgeräte der Besucher einsammelt.

Für die Fifa gibt es kaum etwas Schöneres

Im Fußball eine schöne Utopie. Einfach das Spiel sehen. Einfach ein Tor sehen, ohne sich zu ärgern, dass man gefilmt hat. Aber wer sollte Smartphones verbieten? Für die Fifa gibt kaum etwas Schöneres als die Millionen feiernden Menschen, die 25/7 ihre Clips und Bilder aus der Fifa-Raumstation in die Welt blasen. Kostenlose Werbung auf sämtlichen Kanälen des Internets.

Am Ende fragt man sich: Wer schaut sich das alles an? Verwackelte Aufnahmen von halben Torchancen aus 150 Meter Entfernung? Videos von mittelmäßigen und total übersteuerten DJ-Sets auf dem Fifa-Fanfest, bei dem die Tonspur klingt, als hätte jemand die Klospülung betätigt? „Das ist aber toll, darf ich das noch mal sehen?“ – „Aber klar doch, ich habe übrigens noch 74 623 weitere Zehn-Sekunden-Clips von dem Spiel Marokko gegen Iran.“ – „Toll, dann nehme ich mir für die kommenden zwei Wochen frei, und wir gucken die alle gemeinsam!“

Aller Anfang. Schon beim Eröffnungsspiel der Russen gegen Saudi-Arabien wurde viel geknipst.
Aller Anfang. Schon beim Eröffnungsspiel der Russen gegen Saudi-Arabien wurde viel geknipst.

© dpa

Am späten Freitagabend, drei Stunden nach dem Spiel zwischen Marokko und Iran, fuhr ich zurück in die Stadt. Die Straßen waren nun wie leer gefegt. Auch im Bus war viel Platz, nur in der vorletzten Reihe saß ein Mann, er trug ein Marokko-Trikot und sah niedergeschlagen aus. Vielleicht dachte er an diese 95. Minute, an Aziz Bouhaddouz und sein irres Flugkopfballeigentor.

Er starrte erstaunlicherweise nicht auf einen flimmernden Screen, er schaute aus einem Fenster in die Sankt Petersburger Nacht. Es war 23 Uhr und noch immer so hell, als hätte jemand einen Milchfilter über die Straßen gelegt, aber das Bild war echt. Kurz fragte ich mich, ob dieser Mann ein Zeitreisender war, so ruhig, gedankenverloren und bei sich saß er da. Vielleicht aber war er nur traurig, weil er sein Smartphone verloren hatte.

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