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Panama bereitet sich auf das erste WM-Spiel in der Geschichte des Landes vor.

© AFP

WM-Debüt: Panama: Die rote Flut

Panama spielt zum ersten Mal überhaupt bei einer WM. Es ist schon jetzt die romantischste Geschichte des Turniers.

In der Nacht zum 11. Oktober 2017 sitzt Juan Carlos Varela im Trainingsanzug seiner Nationalmannschaft am Schreibtisch. Soeben hat der Präsident Panamas ein Dekret unterzeichnet, das den morgigen Tag zum Nationalfeiertag erklärt. Vor dem Präsidentenpalast, überall sonst in Panama Stadt und im ganzen Land haben Panamaer und Panamaerinnen die Straßen erobert, schwenken die Landesfahne, veranstalten kilometerlange Autokorsos und können ihr Glück kaum fassen.

Wenige Minuten zuvor im Estadio Rommel Fernández der Hauptstadt. Panama gegen Costa Rica, letzter Spieltag der WM-Qualifikation, noch drei Minuten auf der Uhr. Es steht 1:1, Panama wäre ausgeschieden. Ein letzter langer Ball hoch ins linke Halbfeld. Ismael Diaz steigt hoch, verlängert per Kopf in den Lauf von Roman Torres, dem aufgerückten Abwehrschrank, der den Ball mit der Willenskraft einer ganzen Nation und der Geschwindigkeit eines Fastballs Vollspann in den Winkel schweißt. 2:1 für seine Mannschaft. Torres dreht ab, reißt sich das Trikot vom Körper und springt über die Bande, um mit den Fans zu feiern. Der Rest ist Ekstase. Während der panamaische Fernsehkommentator noch damit beschäftigt ist, einen Weltrekord für die meisten „Gol“-Rufe pro Minute aufzustellen, verlieren die USA auf Trinidad und Tobago. Panama ist zum ersten Mal in der Geschichte des Landes für eine Weltmeisterschaft qualifiziert. Die landesweite Party beginnt.

Das "Wunder von Roman"

Auch wegen der umgekehrten Gefühlswelt, der unendlichen Enttäuschung vier Jahre zuvor, als „Los Canaleros“ am letzten Spieltag 2:3 gegen die USA verloren und ihren Playoff-Platz für Brasilien aus der Hand gaben. Dementsprechend proklamiert die Tageszeitung „La Prensa“ den Sieg gegen Costa Rica als „Wunder von Roman“ und kommentiert: „Vor vier Jahren gab es Tränen der Schmerzen. Jetzt sind es Tränen des Glücks. Panama fährt nach Russland 2018 und der Held heißt Roman Torres.“ Er werde in die panamaische Geschichte eingehen. Die Geschichte einer Nationalmannschaft, die romantischer kaum sein könnte. Dass das Tor zum zwischenzeitlichen 1:1-Ausgleich ein Phantomtor war und der Schiedsrichter die Meinung, der Ball habe die Linie überquert, exklusiv für sich hatte? Geschenkt. Auch, dass ein Torverhältnis von minus eins normalerweise nicht für die WM-Qualfikation reicht oder die USA normalerweise niemals gegen den 91. der Fifa-Weltrangliste verlieren. Egal, dass ein Schuss, der am Tor vorbeigeht, normalerweise nicht als Treffer zählt. Normal gehört einfach nicht zu Panamas Geschichte.

Auch nicht in Russland, wo das Team, abgesehen von Saudi-Arabien, als der größte Underdog gilt. Nicht zu unrecht. Der Kader, den der erfahrene kolumbianische Trainer Hernan Gomez zusammengestellt hat, hat ein Durchschnittsalter von 29 Jahren. Die Stars der Mannschaft, Rekordtorschütze Luis Tejada und -spieler Gabriel Gomez, sind 36 und 34 Jahre alt. Sieben Spieler haben mehr als 100 Länderspiele absolviert. Dass die noch eine Weltmeisterschaft erleben dürfen, macht Panamas sowieso schon schöne Story noch traumhafter. Und ist ihr größter Trumpf bei der WM.

Denn spielerisch ist von „La Marea Roja“, der roten Flut, wie die Nationalmannschaft auch genannt wird, nicht allzuviel zu erwarten. Kein einziger Profi aus dem Kader spielt in einer der fünf europäischen Topligen, die meisten in den USA, Mittel- und Südamerika. Die Erfahrung der Mannschaft muss in Russland ihre technischen Mängel aufwiegen.

Dank eines Videos zur WM

Noch mehr Romantik in diese lateinamerikanische Fußballschmonzette bringt einer, der im Gegensatz zu den Kollegen kaum Erfahrung hat. Jose Luis Rodriguez wird am Dienstag 20 Jahre alt, steht in Belgien bei KAA Gent unter Vertrag und hatte bis Ende Mai noch nie für sein Land gespielt. Als er für die U21 seines Klubs in einem Spiel drei Tore schießt, landet ein Video davon im Internet und verbreitet sich rasant in seiner Heimat. Danach hat Nationaltrainer Gomez gar keine andere Wahl, als den Außen zur WM mitzunehmen.

Ab heute muss das Team aus dem Land, das eigentlich für seine Boxweltmeister und Baseballer bekannt ist, bei der WM beweisen, dass Panamaer nicht nur schlagen, sondern auch treten können. Allerdings anders als Stürmer Blas Perez, der im Test gegen Dänemark für einen eingeflogenen Kung-Fu-Kick gegen Kasper Schmeichel vom Platz flog. Unter dem hochtrabenden Motto „Für das Wohl der Welt“ möchte Panama die jetzt schon schönste Geschichte der WM weiterschreiben. Das mit Finanzgeschäften und dem Kontinentalkanal reich gewordene Land hat unter den Enthüllungen der Panama Papers gelitten, die Bevölkerung sehnt sich nach positiven Schlagzeilen, für die die Nationalelf sorgen soll.

Phantomtore wird es dank VAR in Russland allerdings nicht geben, was Panamas sowieso überschaubare Chance auf den großen Wurf nicht erhöht. Um in einer Gruppe mit Belgien, England und Tunesien trotzdem für eine Überraschung zu sorgen, muss die Mannschaft über sich hinauswachsen, die rote Flut zum Tsunami ansteigen. Normalerweise wird das nicht passieren. Aber normal gehört nicht zu dieser Geschichte. „Alles ist möglich“ hingegen schon. Präsident Juan Carlos Varela würde vermutlich einen ganzen Feiermonat ausrufen. Natürlich im Trainingsanzug von La Marea Roja.

Tobias Finger

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