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Fischer

© dpa

WM-Geschichte: Allein gegen die Deutschen

Wie ein einzelner Künstler das WM-Halbfinale 1982 zwischen Frankreich und Deutschland nachspielte.

Alleine läuft der Mann ins Stadion ein. Er stellt sich am Mittelkreis auf, hört sich die deutsche Nationalhymne an, um dann inbrünstig die Marseillaise mitzusingen. Mit ihm singen 1600 Zuschauer auf der Haupttribüne des Stade Vélodrome von Marseille. Dann Anpfiff.

Eigentlich hatte die französische Nationalmannschaft am Samstag spielfrei. Die „Bleus“ konnten zusehen, wie Italien mit dem 2:1-Sieg gegen Schottland auch die Franzosen für die Europameisterschaft 2008 qualifizierte. Währenddessen aber lief im Marseiller Stade Vélodrome doch ein Blauer im Schein des Flutlichts auf. Nicht irgendeiner, nein, der Spieler trug das Trikot mit der Nummer zehn. Das Trikot von Michel Platini.

Eigentlich war es nur ein originelles Spektakel zur Wiedereröffnung eines Marseiller Theaters, das der Schauspieler Massimo Furlan am Samstag auf den Rasen zauberte. Mehr als 120 Minuten lang imitierte Furlan die Laufwege und Gesten von Michel Platini während des WM-Halbfinals von 1982, dem 8:7-Sieg Deutschlands gegen Frankreich nach Elfmeterschießen. Doch die Tatsache, dass die Performance Furlans an ein Spiel erinnert, das vor 25 Jahren stattfand, zeigt einmal mehr, wie tief die Trauer der Franzosen saß nach der unglücklichen Niederlage. Die Liste der Jahrhundertspiele mit französischer Beteiligung war bis dato nicht lang. Kein Bern '54, kein Wembley '66, kein Mexiko ’70. Es gab also Nachholbedarf, und für den sorgte die Mannschaft um das „magische Viereck“ Platini, Genghini, Giresse und Tigana an jenem Abend des 8. Juli 1982 in Sevilla.

Genau wie damals im Stadion Sanchéz Pizjuán wird an diesem Samstagabend im Stade Vélodrome der 1:1-Ausgleich der Franzosen in der 27. Minute heftig bejubelt. Platini nachahmend, küsst Furlan den imaginären Ball, legt ihn auf den Elfmeterpunkt und verlädt Toni Schumacher mit einem trockenen Schuss ins linke untere Eck.

Vom Rest der ersten Halbzeit bleibt vor allem haften, dass Schumacher schon vor dem brutalen Sprung in Battiston in der 57. Minute den Kontakt mit den angreifenden Franzosen nicht gerade verhindert, im Gegenteil. Erstes Opfer ist – Michel Platini. Massimo Furlan hält sich den Oberschenkel, auf den er vom deutschen Torwart einen Schlag bekommen hat. Die französischen Fernseh-Kommentatoren stellen anschließend nicht zu Unrecht fest, Schumacher tue nichts, um dem heranstürmenden Amoros auszuweichen. Die gleiche Szene nur drei Minuten später, als Schumacher den Ball fängt und Didier Six noch einen mitgibt. Massimo Furlan kommt 25 Jahre danach in den Fünfmeterraum gelaufen und versucht mit beschwichtigenden Handbewegungen, Torwart Schumacher zu beruhigen.

Vermutlich setzt schon hier das Ausgraben alter Ressentiments ein. Die Deutschen grob wie eh und je, und der Schiedsrichter ahndet es nicht einmal. Nicht einmal das Foul an Battiston. Während Schumacher ungeduldig auf die Ausführung seines Abstoßes wartet, sorgt sich Platini um den bewusstlosen Battiston. Der Schauspieler Furlan läuft neben der imaginären Trage, auf der Battiston liegt und hält seinem Freund und Klubkollegen bei Saint-Etienne die Hand.

Wenn hier schon nicht alles mit rechten Dingen zugeht, sagt sich Platini, versuche ich es eben auf die gleiche Art. Massimo Furlan lässt sich ohne Fremdeinwirkung im Strafraum Schumachers fallen. Vergebens. Schiedsrichter Corver ignoriert die Szene komplett. Aber die große Hoffnung sollte ja erst in der Verlängerung aufflammen. Die Franzosen führen in der 98. Minute mit 3:1, es sieht gut aus mit dem Finaleinzug. Trotzdem haben sie weiterhin Angst, wie die Spieler später auch selbst zugeben. Platini kann seine Kollegen nicht wirklich aufrütteln, kommt selbst in den deutschen Angriffswellen ins Schwimmen. Nach Fischers Fallrückzieher zum 3:3 geht es ins Elfmeterschießen.

An den Gesichtern der Franzosen merkt man: So richtig glaubt keiner mehr an den Sieg. Den Kommentatoren geht es genauso. Massimo Furlan wird wenigstens seiner Rolle als Kapitän gerecht und verwandelt sicher den fünften Elfmeter. Genauso wie Horst Hrubesch nach dem verschossenen Versuch von Bossis. Deutschland gewinnt das Elfmetschießen mit 5:4 und zieht ins WM-Finale ein.

Der Traum von 25 Millionen französischen Fernsehzuschauern ist brutal geplatzt, genau wie der der kleinen Blauen, wie die Equipe tricolore liebevoll genannt wird. Michel Platini wird später sagen: „In diesem Spiel gab es alles. Kein Theaterstück kann solche Gefühle erzeugen.“

Matthias Sander[Paris]

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