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Statistiken sind sein Leben: Rainer Bartkowiak.

© Mike Wolff

Zahlen sind seine Leidenschaft: Der Mann, der für die Sportstatistiken lebt

Jedes Wochenende ruft er in der Redaktion an und fragt nach Ergebnissen der verrücktesten Sportarten. Doch was macht der Mann damit? Eine Begegnung.

Irgendwann ist die Geduld zu Ende. „Ich will ja nicht unhöflich sein, aber wir schließen um 18 Uhr.“ Streng schaut die vor drei Stunden noch so freundlich blickende Kuchenverkäuferin in den schummrigen Nebenraum des kleinen Cafés am Marienfelder Damm. Die beiden einzigen Gäste zucken erschrocken zusammen.

Ein kurzer Blick zur Wanduhr: drei viertel sechs. Höchste Zeit, die ausgebreiteten Schätze auf dem Tisch wieder in der geräumigen Aktentasche zu verstauen. Die Schätze – das sind einzigartige Dokumente eines leidenschaftlich gepflegten Hobbys. Sportstatistiken, teils als dicke gedruckte Bände gesammelt, teils selbst mit der Hand erstellt und in Ordnern abgeheftet.

Reiner Bartkowiak brennt für den Sport

Da liegt die Originalausgabe des Olympiabuchs von den Spielen 1920 in Antwerpen in schwedischer Sprache auf dem Tisch, mit vielen hochklassigen Schwarz-Weiß-Fotos und einem umfangreichen Statistikteil. Da liegen schwere Sportstatistik-Jahrbücher und etliche Fußball-Almanache, man kann in alten Sportzeitschriften blättern und Zeitungsartikel über längst verstorbene Sportgrößen lesen. Diese Schätze gehören Reiner Bartkowiak, 77. Er, der Urberliner aus Schöneberg und gelernte Großhandelskaufmann, hat in den vergangenen drei Stunden einen winzigen Teil seiner umfangreichen Sammlung präsentiert und versucht, seine Vorliebe für Statistiken zu erklären. Hier brennt einer für den Sport!

In seiner Familie wird Sport großgeschrieben. „In unserer Freizeit haben wir uns alle sportlich betätigt“, erzählt er mit gewinnendem Lächeln, „meine Mutter betrieb Leichtathletik, meine jüngere Schwester spielte zuerst Handball, später hat sie sich leidenschaftlich dem Turniertanzsport verschrieben. Mein Vater, von Beruf Klempnermeister, hat bereits vor dem Zweiten Weltkrieg Feldhandball gespielt. Er hat mich schon als Steppke zum Handball mitgenommen, da habe ich dann immer lässig am Torpfosten gelehnt und das Spiel beobachtet.“

Als er 13 wird, hält es ihn nicht länger am Torpfosten beim Vater. Allein sieht er sich am 29. Juni 1955 im Olympiastadion das Eröffnungsspiel der Feldhandball-Weltmeisterschaft der Männer an: Deutschland gegen Portugal, Deutschland gewinnt mit 9:4. „Es war ein kalter Regentag, und in meinen kurzen Hosen habe ich jämmerlich gefroren“, erinnert er sich lachend. Nun beginnt er selbst Handball zu spielen, zunächst nur auf dem Rasen und unter freiem Himmel, also Feldhandball, später auch in der Halle.

Zahlen über Zahlen. Die Statistiken sind echte Schätze.
Zahlen über Zahlen. Die Statistiken sind echte Schätze.

© Mike Wolff

Mit 13 Jahren tritt in den Verein DJK Schöneberg ein und spielt zunächst in der B-Jugend (heute: C-Jugend), dann in der A-Jugend (heute: B-Jugend). Reiner Bartkowiak erinnert sich: „Wir haben uns dann hochgearbeitet bis zur Oberliga, damals die höchste Spielklasse unterhalb der Bundesliga. Trainiert haben wir in der alten Turnhalle der Rothenburgschule, abends. Die Barren haben wir zu provisorischen Toren zusammengeschoben. Wenn wir nach dem Spiel duschen wollten, mussten wir uns beim Hallenwart für 20 Pfennig eine Münze holen, um die Dusche in Gang zu setzen.“

Schon als Jugendlicher hat sich Reiner Bartkowiak für Statistiken interessiert. Ein Berliner Boulevardblatt brachte regelmäßig einen Sport-Ergebnisteil. Um die Tabellen auch der A-Jugend, die in sieben Staffeln aufgeteilt war, studieren zu können, ruft er schon damals beim Berliner Handball-Verband an. Anstandslos wird ihm zugeschickt, worum er bittet. Als sich sein Interesse auf andere Sportarten auszudehnen beginnt, baut er sich seine Tabellen selbst. „Das war nicht schwer, ich liebte es einfach, mich mit Zahlen, Tabellen, Statistiken zu beschäftigen“, erzählt Bartkowiak schmunzelnd.

Bartkowiak sortiert alles fein säuberlich

Diese Liebe zum Erstellen von Sportstatistiken mit der Hand hat ihn nie mehr verlassen. Im Laufe der Zeit hat er seine Methode verfeinert. Reiner Bartkowiak setzt seine randlose Lesebrille auf und mustert seine mitgebrachten schweren Ordner. Darin gibt es jede Menge Statistiken zu populären Sportarten wie Handball, Fußball und Hockey, aber eben auch zu anderen wie Rugby oder Curling. Alle mit der Hand angelegt und immer weitergeführt. Er entscheidet sich für einen Ordner, öffnet ihn und entnimmt ihm ein mehrfach gefaltetes Blatt.

Als er es vorsichtig entfaltet, erweist es sich als riesig, es bedeckt den ganzen Tisch. Mit Tesafilmstreifen sorgsam aneinandergeklebte DIN-A-4-Blätter, die mit Linien, Zahlen und Worten bedeckt sind, lassen den Betrachter staunen. Bartkowiaks Augen blitzen hinter den Brillengläsern, und es sprudelt nur so aus ihm heraus: „Nehmen wir den Komplex Fußball, der aufgeteilt ist in Männer, Frauen und Jugend. Die Männer sind unterteilt in WM Feld, WM Halle (Futsal), Olympia Feld und WM Beachsoccer, die Frauen in WM Feld und Olympia Feld. Bleiben noch U-20-WM Männer und Frauen und U-17-WM Männer und Frauen.

EDV? Nicht mit ihm

Es werden jeweils die Platzierungen der Nationen, die Anzahl der Spiele, die Ergebnisse und die Zahl der Medaillen eingetragen. Dann kommen die Punktzahlen der Vor-, Zwischen- und der Endrunde dazu. Die drei Erstplatzierten werden mit roten Kugelschreiber hervorgehoben, die weiteren Platzierungen erscheinen in blauer Schrift. Für die bei den Turnieren errungenen Gold-, Silber- und Bronzemedaillen gibt es je drei, zwei und einen Punkt. Zum Schluss muss die Gesamtpunktzahl mit der Anzahl der Wettbewerbe übereinstimmen.“ Noch Fragen?

An seinem alten Arbeitsplatz, den er bei Eintritt ins Rentnerdasein mit 63 Jahren verlässt, wird Anfang der 1990er Jahre die EDV eingeführt, privat bleibt er seinem Prinzip treu, alles mit der Hand zu gestalten und einzutragen. Bewusst verzichtet er auf einen heimischen PC. „Auf der Arbeit gab es immer so viele Computerpannen, da hatte ich keine Lust, mich noch in der Freizeit mit dem Kram herumzuärgern“, erklärt Bartkowiak. Als er im Fernsehen einen Beitrag über die Gefahren, die im Internet lauern, sieht, zeigt er sich erschüttert und in seiner Entscheidung bestätigt.

Bartkowiak ist ein gern gehörter Anrufer

Um an die Ergebnisse von gerade nicht so populären Sportarten wie zum Beispiel Zweier-Radball heranzukommen, schöpft er aus vielen Quellen: Er ruft an – bei Sportverbänden und Sportvereinen und in den Redaktionen von Tageszeitungen wie dem Tagesspiegel. Zuverlässig klingelt an jedem Wochenende das Telefon in der Redaktion. Man kennt ihn seit langem und meist wird er freundlich bedient. Er schaut sich im Fernsehen die Sportsender und die Sportschauen der regionalen Sender an oder findet Sportergebnisse auf im Teletext. Er hat etliche Sportzeitschriften abonniert. Oder er sucht die Zentral- und Landesbibliothek in Kreuzberg auf. Dort gibt es eine reichhaltige Sportliteratur mit vielen Fachzeitschriften, da kann er sich informieren.

Sein Vater war nicht nur ein passionierter Handballspieler, sondern sammelte auch alte Sportbücher. „Unter den Büchern meines Vaters hatte ich die Olympiabände der Spiele von 1932 in Los Angeles und der Spiele von 1936 in Berlin entdeckt. Bis dahin hatten sie mich nicht sonderlich interessiert, aber jetzt packte mich plötzlich eine große Sammelleidenschaft“, berichtet Bartkowiak. Da ist er Anfang 30 und widmet sich zielstrebig seinem neuen Hobby. Bartkowiak erzählt weiter: „In meiner Freizeit begann ich, Berlins Antiquariate und Flohmärkte zu durchstöbern, immer auf der Suche nach alten Olympiabüchern.“ Seit Athen 1896, dem Beginn der Olympischen Spiele der Neuzeit, werden Olympiabücher herausgebracht.

Originalausgaben sind rar und haben ihren Preis, sie liegen für Bücher, die älter als 60 Jahre und in gutem Zustand sind, im dreistelligen Bereich. Viele seiner Statistik-Jahrbücher hat er über einen Sportverlag erworben. „In meiner Zweizimmerwohnung sind die Wände 2,50 Meter hoch. In einem der beiden Zimmer stehen zwei Bücherregale, 60 Zentimeter breit und 2,40 m hoch, reichen also fast bis zur Decke. Sie sind von oben bis unten vollgestopft, langsam bekomme ich ein Platzproblem“, sagt Bartkowiak. Es versteht sich von selbst, dass alles wohlgeordnet ist und er jederzeit schnell findet, was er sucht. Und er sucht oft, denn er liest gern in seinen alten Statistikbüchern.

Aus sicherer Quelle. Rainer Bartkowiak führt Buch über allerlei Sportarten.
Aus sicherer Quelle. Rainer Bartkowiak führt Buch über allerlei Sportarten.

© Mike Wolff

Und natürlich besucht er Sportveranstaltungen, schon seit seiner Kindheit. Als 1983 die erste Leichtathletik-Weltmeisterschaft in Helsinki stattfindet, bucht er über ein Reisebüro eine organisierte Sportreise zu diesem Ereignis – und lässt danach bis Berlin 2009 keine einzige Weltmeisterschaft aus. „Meine Erlebnisse bei diesen Reisen könnten Bücher füllen, würde ich sie alle erzählen“, schwärmt er, „eine schöne Zeit war das. Ich bin dankbar, dass ich so viel von der Welt sehen konnte.“ Bartkowiak bevorzugt keine Sportart und hat auch keinen Lieblingsverein. Am liebsten sind ihm Mannschaftssportarten, „aber bitte kein Profifußball, da dreht sich doch alles nur noch ums Geld.“

Wenn Reiner Bartkowiak mal keine Sportveranstaltung besucht, wandert er gern oder geht schwimmen („Mein Sternzeichen ist der Fisch“). Manchmal mag er’s auch besinnlich. Dann schlendert er über Friedhöfe, allein mit einem Friedhofsführer unter dem Arm oder nimmt an einer Führung teil. Auf einem seiner Streifzüge hat er auf dem Friedhof der St.-Thomas-Gemeinde an der Neuköllner Hermannstraße zufällig das Grab von Reinhold Habisch, genannt „Krücke“, entdeckt.

Was wird einmal aus den Statistikschätzen?

Habisch, gestorben 1964, war ein Berliner Original. Er war Stammgast beim jährlich stattfindenden Sechstagerennen im Sportpalast. Seine große Zeit hatte er in den 1920er Jahren, als er jeden Abend auf dem sogenannten „Heuboden“ saß. Wenn die Kapelle den „Sportpalastwalzer“ spielte, steckte er zwei Finger in den Mund und vollendete mit vier kräftigen Pfiffen jede Zeile des Refrains.

Manchmal, beim Betrachten der Grabsteine, kommen ihm leise Gedanken über die Endlichkeit des Lebens. Und auch jetzt, beim Verstauen seiner gesammelten Werke in der geräumigen Aktentasche, geht ihm durch den Kopf: Was wird einmal mit seinen ganzen Schätzen geschehen, den über Jahrzehnten geführten Statistiken und den wertvollen alten Sportbüchern, Zeugnisse eines lebenslangen, leidenschaftlichen Sportinteresses?

Schnell weicht die auf aufkeimende Wehmut wieder und macht einer Vorfreude aufs nächste Jahr Platz: „Jetzt freue ich mich erst einmal auf die Hallenhockey-Europameisterschaft im Horst- Korber-Zentrum und auf ein an Höhepunkten reiches Sportjahr 2020.“

Gitta Schlusche

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