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Sport: Zentimeter-Frage

Turner Palgen besucht den gelähmten Ziesmer – kurz darauf bricht er sich selbst den Halswirbel

Berlin – Der rechte Arm kribbelt ständig. „Als wäre er eingeschlafen“, sagt Sascha Palgen. Er kann nur in bestimmten Positionen schlafen, sonst hat er sofort Kopfschmerzen. „Manchmal kommen sie aber auch unkontrolliert.“ Es geht nicht, er kann nicht starten. Am Donnerstag beginnen in der ungarischen Stadt Debrecen die Europameisterschaften im Kunstturnen. Sie finden ohne Sascha Palgen statt. „Natürlich schmerzt das“, sagt der Luxemburger.

Man könnte auch sagen, dass die Schmerzen ein Glück sind, diese Schmerzen jedenfalls. Es hätte auch anders kommen können. Sascha Palgen könnte jetzt auch querschnittsgelähmt sein. Hätte er sich nicht den siebten Halswirbel gebrochen, sondern einen anderen, säße der 20-Jährige jetzt im Rollstuhl. Wie sein Trainingskollege Ronny Ziesmer, der Turner aus Cottbus. Ziesmer war bei einem Pferdsprung auf den Kopf gefallen, aus fast drei Metern Höhe.

Sascha Palgen von der Bundesliga-Riege der TG Saar fiel aus rund 1,50 Metern Höhe auf den Kopf. Es war Ende März, er trainierte in Luxemburg. Normalerweise lebt und trainiert er in Stuttgart. Ein Doppelsalto am Boden ging schief, er war nicht hoch genug gesprungen. Palgen spürte das sofort, er hätte jetzt zusammengerollt bleiben müssen. Dann wäre er nur auf den Rücken gefallen. Aber er streckte sich und fiel deshalb auf den Kopf. „Ich habe bemerkt, dass etwas mit meinem Kopf ist. Aufstehen konnte ich nur mit Hilfe meines Trainers“, sagt Palgen. Aber er konnte aufstehen. Es war für ihn selbstverständlich. Er war zu benommen, um daran zu denken, wie viel Glück er hatte. Er dachte nicht an Ziesmer. Noch nicht.

Später schon. Denn Palgen hatte Ziesmer kurz zuvor noch in Cottbus gesehen. Palgen hatte dort geturnt, anschließend besuchte er den Freund. „Ein bewegendes Gefühl“, sagt er. „Auf der Heimfahrt „musste ich immer wieder an ihn denken.“ Aber Ziesmer war der Patient. Er, Palgen, der Sportler. So war die Rollenverteilung in seiner Gedankenwelt. Dass er selber mal Patient sein würde mit ähnlicher Diagnose wie Ziesmer, daran hätte der 20-Jährige nie gedacht.

„Sascha hat verdammt viel Glück gehabt“, sagt Hans-Peter Boschert, der Teamarzt der deutschen Nationalriege. „Ich weiß“, sagt Palgen. Denn hinter dem Sturz steckt noch eine andere Geschichte. Ein Arzt in Luxemburg hatte dem Mann, dessen Halswirbel gerade gebrochen war, der durch jede falsche Bewegung doch gelähmt werden konnte, nach zwei Röntgen-Untersuchungen mitgeteilt: „Das ist eine Verstauchung.“ Dann gab Palgen Schmerzmittel. Aber die Schmerzen blieben, erst Boschert stellte die richtige Diagnose und verordnete sechs Wochen absolute Pause.

Und doch macht Sascha Palgen weiter. Warum? „Weil ich zu viel ins Turnen investiert habe.“ Mit aller Macht verdrängt er die Gedanken an die Lähmung. Er hat den Tunnelblick, eine Art Selbstschutz, der ihm die Chance zum Weitermachen gibt. Also sagt er: „Auf der Straße kann ich auch überfahren werden.“ Oder: „Auf den Hinterkopf ist jeder Turner schon mal gefallen.“ Doch die Träume kann er nicht kontrollieren. Gibt es diese Angst vor dem Alptraum? Der Sturz ging nicht gut aus, er, Sascha Palgen, bleibt liegen, querschnittsgelähmt? Noch gab es ihn nicht, diesen Traum. Der Schüler redet ungern über so einen Traum. Er macht eine lange Pause, aber dann sagt er: „Ja, ein bisschen Angst habe ich schon.“

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