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Symbolfoto zu Schulunterricht im Rollstuhl

© imago

1968 im Tagesspiegel: In Reinickendorfs Einrichtungen für Körperbehinderte geht es in Rollstühlen zum Schulunterricht

Vor 50 Jahren berichtete der Tagesspiegel über die Schularbeit mit körperbehinderter Kindern

Wie hat der Tagesspiegel das Jahr 1968 begleitet? Wir publizieren regelmäßig einen ausgewählten Text aus der Zeitung von vor 50 Jahren – zur Studentenbewegung, sowie zu anderen Themen, die die Stadt und die Welt bewegt haben. Am 16. Februar 1968 ging es im Berlin-Teil um das Konzept der Alfred-Brehm-Schule in Tegel

96 körperbehinderte Kinder und Jugendliche, zwischen fünf und 18 Jahre alt, empfangen heute Besuch in der Afred-Brehm-Schule in Tegel. Eltern, der Bezirksbürgermeister, Bezirksverordnete und interessierte Lehrer sollen an einem Informationsnachmittag die Schularbeit körperbehinderter Kinder kennenlernen, die hier mit dem Schulkindergarten beginnt und bis zur zehnten Realschul-Klasse führt. Reinickendorf hat mit diesem Sonderschulzweig in Berlin Beispielhaftes eingerichtet. Ähnlich intensiv werden körperbehinderte Kinder noch in Zehlendorf unterrichtet, weitere Schulklassen für Schulpflichtige mit schweren körperlichen Leiden gibt es in Wedding, Neukölln, Spandau, Tempelhof, Kreuzberg. Einige Schulämter haben Kinder aus verschiedenen Bezirken in Sonderklassen zusammengefaßt.

Erst seit den fünfziger Jahren gibt es in Berlin regelrechten Schulunterricht für körperbehinderte Kinder, die zum Teil im Rollstuhl zum Unterricht kommen. Sie werden mit Bussen abgeholt und wieder nach Hause bzw. in das Heim, in dem sie leben, gebracht. Früher schickte das Schulamt solchen behinderten Kindern einen Lehrer nachmittags ins Haus, der das Notwendigste übermittelte, die Kinder aber in ihrer Isolierung belassen mußte. In Reinickendorf wurde vor zwölf Jahren versuchsweise eine Klasse für solche Jungen und Mädchen eingerichtet. Heute sind es insgesamt fünf Klassen, die - außer der ersten - immer mehrere Jahrgänge zusammenfassen. In der fünften Klasse sitzen beispielsweise 20 Kinder vom siebenten bis zum zehnten Schuljahr. In einer Stunde hat der Lehrer den Stoff verschiedener Schuljahre individuell zu verteilen. Diese Arbeit bewältigen fünf Pädagogen mit der, zusätzlichen, viersemstrigen Ausbildung zum Sonderschullehrer, außerdem gibt es eine Schulkindergärtnerin und zwei Assistentinnen. Nach Bedarf werden auch Lehrkräfte der im gleichen Haus ansässigen 14. Reinickendorfer Grundschule eingesetzt.

Technische Hilfe bieten seit kurzem einige Schreibmaschinen. Manche Kinder sind nicht in der Lage, einen Bleistift zu halten: Sie schreiben also Schreibmaschine, um überhaupt schreiben zu können. Schüler mit besonders geringer Muskelkraft, die beispielsweise selbst nicht den Wagen der Maschinen bewegen können, benutzen eine elektrische Schreibmaschine.

Musikinstrumente wurden angeschafft, Spiel- und Bastelgeräte und Turngeräte. Für den orthopädischen Turnunterricht kommen Krankengymnastinnen des Gesundheitsamtes ins Haus. Einmal in der Woche fahren die Kinder von der Schule aus in Bussen zum Paracelsus-Bad zum orthopädischen Schwimmen. Die jüngeren schlafen vor der sportlichen Betätigung auf kleinen Liegen, die ebenfalls in der Schule aufgestellt sind.

Rektor Rieß, der Schulleiter, hat aber die Wunschliste noch nicht abgeschlossen. Die Schule braucht dringend einen Logopäden, eine Fachkraft also, die jenen Kindern hilft, die neben der körperlichen Behinderung auch Sprachstörungen haben. Nur wenige der körperbehinderten Kinder haben "nur" ein Leiden. Viele sehen und hören schlecht, haben neben dem sichtbaren noch organische Leiden. Behinderte, die an den Folgen von Kinderlähmung oder Knochentuberkulose leiden', sind in den letzten Jahren seltener geworden. Die Zahl der spastisch Gelähmten und der Diabetiker unter den Schulkindern nahm kraß zu.

Pausen dürfen sich die Lehrer nicht erlauben. Sie müssen ihre Schützlinge ständig unter den Augen haben, und wenn eines vom Lehrer zur Toilette gebracht werden mußte, gingen die anderen mit, weil sie ja nicht unbeaufsichtigt bleiben durften. Seit es die beiden Hilfskräfte in der Schule gibt, sind die Lehrer wenigstens von dieser Aufgabe befreit.

Sinn des heutigen Informationsnachmittags ist es unter anderem, zu beweisen, daß ein körperbehindertes Kind seine Fähigkeiten unter seinesgleichen besser entwickelt als in häuslicher Isolierung. Deshalb sind auch Eltern geladen, deren Kinder für diese Schule vorgeschlagen wurden. Der Bildungsplan ist der gleiche wie in der Normalschule, denn es sollen ja auch Übergänge von der Sonder- zur Normalschule möglich sein. Das Abitur können körperbehinderte Kinder, deren Behinderung keinen anderen Unterrichtsbesuch erlaubt, in einer Schule in Hessisch-Lichtenau machen, dem einzigen Gymnasium nur für Körperbehinderte in der Bundesrepublik.

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