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Viele Menschen gingen in Prag oder, wie hier zu sehen, in Warschau auf die Straße um zu demonstrieren

© Krzysztof Wojciewski / dpa

1968 im Tagesspiegel: Prag und Warschau

Vor 50 Jahren wurden die politischen Unruhen in Prag und Warschau immer größer

Wie hat der Tagesspiegel das Jahr 1968 begleitet? Wir publizieren regelmäßig einen ausgewählten Text aus der Zeitung von vor 50 Jahren – zur Studentenbewegung, sowie zu anderen Themen, die die Stadt und die Welt bewegt haben. Am 13. März 1968 wurde über die anhaltenden Demonstrationen und Unruhen in Polen und der Tschechoslowakei berichtet.

Die zum Teil dramatischen Ereignisse in Prag und in Warschau haben eine gemeinsame Ursache insofern, als sie eine Reaktion auf die Unfähigkeit kommunistischer Regime darstellen, auf die Dauer glaubhafte Lösungen für das Freiheitsproblem zu finden - und sei es nur die kulturelle Freiheit und das Recht auf nationale geistige Traditionen. Dabei ist der Unterschied der politischen Bedingungen in beiden Ländern, des politischen Klimas und der Einstellung der jeweiligen kommunistischen Regime zu den Vorgängen nicht zu übersehen.

Öffentliche Diskussion wird als Führungsmittel genutzt

Der Entwicklungsprozeß in der Tschechoslowakei greift an die Wurzeln der geistigen Existenz einer kommunistischen Partei und wird - jedenfalls im Augenblick - auch so von ihr verstanden und diskutiert. Gegenwärtig scheint die öffentliche Diskussion von einer neuen Parteiführung bewußt als Führungsmittel und Methode der Vertrauenswerbung eingesetzt zu werden. Der regelnde Eingriff bezieht sich zunächst darauf, daß auch Männer der alten Garde, der im Geiste stalinistischer Kaderschulung erzogenen Mitglieder der Parteihierarchie, das Wort erhalten, so daß Ungewißheit und Erwartung, die Interessen der neuen, nach vorn drängenden Kräfte und der alten, mit dem Machtapparat verbundenen Gruppen sich die Waage halten.

Direkte Konfrontation in Polen

In Polen hingegen sieht sich ein Regime, das einst die Erwartungen auf Liberalisierung der politischen Verhältnisse durch die Proklamierung größerer nationaler Selbständigkeit zuließ, in einem Augenblick, da es längst zur außen- und innenpolitischen Disziplin zurückgekehrt ist, einer Eruption der Unruhe gegenüber, die es zunächst noch in direkter Konfrontation abzuwehren sucht - im Vertrauen darauf, daß intellektuelle Unruhe im polnischen Volk immer erst in der Vermählung mit konkreten nationalen Zielen größere Kreise zu ziehen vermag.

In der Tschechoslowakei ist im Zuge der Entwicklung jedoch bereits sichtbar geworden, daß es sowohl um das Selbstverständnis einer kommunistischen Partei als auch um das Selbstverständnis der Nation geht. Zu dem im tschechoslowakischen Bewußtsein angelegten allgemeinen Ruf nach Demokratie und größerer Freiheit - wie immer solche Begriffe in der späteren Entwicklung relativiert werden mögen - gesellen sich so konkrete Probleme, wie das Verhältnis der einzelnen Volksteile zueinander und das Maß ihres wirtschaftlichen Einflusses. In der Partei gibt es eine Koalition alter, von der Finsternis stalinistischer Politik zutiefst enttäuschter Funktionäre mit jüngeren Kräften, in deren Drang nach vorn sich auch die idealistische Hoffnung äußert, die Dinge einfach besser machen zu können.

Es gibt erstaunliche Äußerungen aus der Tschechoslowakei: Reflektionen des tiefsten Mißtrauens und Furchtkomplexe, daß alles nur eine vorübergehende Euphorie sei - und im Gegensatz dazu dann eine Diskussionsbereitschaft, die alle Grundvoraussetzungen eines orthodoxen kommunistischen Staates freimütig in Frage stallt. Solidaritätstelegramme, wie sie aus dem Geiste eines plakativen Marxismus von einigen Studentengruppen in West-Berlin nach Warschau geschickt wurden, bleiben in ihrer provinziellen Engstirnigkeit weit hinter dem zurück, was in der Tschechoslowakei in diesen Tagen an voraussetzungsloser, kritischer Durchforstung von alten "Wahrheiten" geleistet wird.

Entwicklung der Tschechoslowakei von internationaler Relevanz

Die eigentliche Frage ist die, ob sich aus der Entwicklung in der Tschechoslowakei tatsächlich der Sprung auf eine andere, von den bisherigen Grundlagen des kommunistischen Selbstverständnisses wegführende Entwicklungsstufe vollzieht - oder ob sich bei dem Versuch der neuen Parteiführung, die Entwicklung in den Griff zu bekommen, einfach das gebrochene Verhältnis aller Kommunisten zur Freiheit in einer anderen Form wiederherstellt. Beides hätte internationale Relevanz, vor allem für das Verhältnis der Tschechoslowakei zu beiden europäischen Lagern. Die schnelle Gangart kann zudem auch Gegenkräfte auf den Plan rufen.

In Polen ist hingegen - wenn nicht neue Volksschichten von der Unruhe erfaßt und aus ihrer Rücksichtnahme auf die prekäre geographische und politische Situation ihres Landes herausgetrieben werden - zunächst nur eine interessante Frage gestellt. Sie ist eigentlich durch die polnische Parteiführung selber aufgeworfen worden, indem sie den Studenten vorwarf, sie ließen sich auch von stalinistischen Kräften hinter der Szene zu Provokationen bewegen. Darin zeigt sich nicht nur innere Bereitschaft, zur Verdammung und Verleumdung - sondern auch ein gewisses Mißtrauen, daß diese Bewegung vielleicht schnell Teil eines Machtkampfes in der kommunistischen Partei Polens werden könne, die bald einmal die Nachfolge-Frage für Gomulka zu lösen haben wird.

In jedem Falle ist die Versuchung für alle Beteiligten groß, die Vorgänge zu Machtentscheidungen zu benutzen, bei denen auch die Sowjetunion eine weitaus größere Rolle spielen dürfte als jetzt augenscheinlich in der Tschechoslowakei.

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Joachim Bölke

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