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70 Jahre Tagesspiegel - unsere Zeitung: Die Welt durch Kinderaugen

Seit 2004 sind sie unterwegs bei Filmsets, unter Sauriern, in der Philharmonie oder der Universität – unsere Kinderreporter. Ein Rückblick.

Von Susanna Nieder

Wen schickt die Redaktion in den Hamburger Bahnhof zu einer Ausstellung moderner Kunst, um für den Kinderspiegel zu berichten? Wer kann beurteilen, ob ein Film, der im Kinderprogramm gezeigt wird, Kindern auch tatsächlich gefällt? Wer interviewt Anton Petzold und Juri Winkler, die Hauptdarsteller aus den „Rico, Oskar“-Filmen? Nicht die erwachsenen Profis. Das können Kinderreporter besser.

Viele Geschichten, die unsere Kinderreporter für uns geschrieben haben, hätten nicht so glaubwürdig gewirkt, wenn Erwachsene sie erzählt hätten. Als Konrad Rohr zum Beispiel Horst Zuse interviewte, den Sohn des Computererfinders Konrad Zuse, stellte er keine Fragen zu Zuses Tätigkeit als Computerspezialist im Krieg. Musste er auch nicht, er war ja erst elf. Bei einem erwachsenen Reporter hätte es vielleicht seltsam gewirkt, dieses heikle Thema auszusparen, bei einem Kinderreporter überhaupt nicht.

Simon Rattle: Töpfe als Schlagzeug

Wir hätten auch niemals ein Interview mit Sir Simon Rattle bekommen, dem Chef der Berliner Philharmoniker, wenn Karoline Jooss nicht so hartnäckig drangeblieben wäre. Nach mehreren Absagen aus seinem Büro schrieb sie einen Brief an ihn persönlich, und als Antwort kam die Einladung in die Philharmonie. Daraus wurde eine denkwürdige Kinderseite, denn Sir Simon erzählte in krausem Deutsch mit Händen und Füßen, wie er als Kind alles als Schlagzeug verwendete – Töpfe, Pfannen, Heizkörper. Karoline, damals ebenfalls elf, konnte sich bei der Vorstellung, dass der alte Knabe mit den weißen Haaren selber mal ein Kind war, das Kichern nicht verbeißen.

Unsere Kinderreporter haben für uns mit dem Pianisten Lang Lang Klavier gespielt, sie haben einer Modellbauerin von Aardman Shaun das Schaf modelliert und in der Königlichen Akademie Dahlem recherchiert, wie man Blumen und Kräuter pflanzt, sie waren an Filmsets und im Schokoladenmuseum, haben sich die Sammlungen des Naturkundemuseums zeigen lassen und den Chef der Berliner Filmfestspiele, Dieter Kosslick, interviewt.

Einige bleiben uns lange treu und gehen mit 14 in die Jugendredaktion

Elf Teams, also 66 Kinder, pro Team drei Jungen und drei Mädchen, haben mittlerweile für uns geschrieben. Dazu kommt bestimmt ein Dutzend, das wir auf Workshops, am Tag der offenen Tür oder am Girl’s Day kennenlernten. Manche übernahmen die Aufgaben von ihren älteren Geschwistern. Einige bleiben uns lange treu und gehen mit 14 in die Jugendredaktion. Unser Veteran ist Viktor Kewenig, der zehnjährig in unser zweites Kinderreporterteam kam, jahrelang für den Kinderspiegel und bis zu seinem Abitur für die Jugendseite schrieb. Heute ist er 21, studiert und schreibt für unseren Jugendblog über seine philosophischen Erkenntnisse.

Früher hat sich seine Mutter darum gekümmert, dass seine Texte pünktlich bei uns landeten. Die Eltern spielen sowieso eine wichtige Rolle. Bisweilen arrangieren sie Termine für ihre Kinder oder bringen sie zu den verabredeten Treffpunkten. Sie sprechen die Texte mit ihnen durch, die der Redaktion dann gemailt werden. Und: Sie unterstützen die Kinder in ihrer Begeisterung.

Die Begeisterung ist das Schönste bei der Arbeit mit den Kinderreporterinnen und -reportern. „Mann, das hat ja sooo einen Spaß gemacht!“, hört man von professionellen Journalisten eher selten, von Kinderreporten oft – und diese Freude haben wir nun seit fast zwölf Jahren.

Die erste Vorlesung der Kinderuni war ein Riesenchaos

Den Kinderspiegel gibt es seit September 2000, unsere Kinderreporter sind seit Januar 2004 unterwegs. Im Herbst 2003 bereitete die Humboldt-Universität ihre erste Kinderuniversität vor und bat uns, im Kinderspiegel zu berichten. Der Kollege Harald Martenstein hatte eine geniale Eingebung: Wir machen ein Reporterteam mit einer richtigen Stellenausschreibung! Sollten in Deutschland oder anderswo zu der Zeit schon Kinderreporter am Start gewesen sein, haben wir es jedenfalls nicht gewusst.

Die erste Vorlesung der Kinderuni war ein Riesenchaos, 1200 Kinder balgten sich um die 720 Sitzplätze im Audimax der HU, Papierflieger und Geschrei, der Professor konnte sich kaum Gehör verschaffen. „Was immer unsere Kinderreporter davon aufschreiben – wir kriegen das schon irgendwie auf die Seite“, dachten wir uns.

Aber wir hatten uns gründlich geirrt. Jedes der sechs Kinder lieferte einen richtig guten Text ab. Wir hatten viel zu wenig Platz eingeplant! Klar, da mussten Eltern mitgeholfen haben. Aber es war deutlich zu erkennen, dass viele Formulierungen von den Kindern selbst stammten. Das musste weitergeführt werden.

Seither suchen wir jeden Herbst ein neues Kinderreporterteam. In einer Anzeige, die im Kinderspiegel erscheint, bitten wir alle interessierten Kinder zwischen neun und zwölf Jahren, uns einen Brief zu schreiben und ein Bild dazuzulegen. Manchmal überzeugt uns die Art, wie ein Kind sich im Brief darstellt, manchmal das Foto. Wichtig ist, dass der Brief wirklich selbst geschrieben ist.

Im Februar schicken wir die neuen Kinderreporter zur Berlinale, um einige der oft nicht ganz einfachen Filme der Kinderfilmreihe zu besprechen. Danach geht jede Woche ein Kind für uns in eine Ausstellung, ein Theaterstück, einen Workshop, um einen Veranstaltungstipp zu schreiben. Und wir sind froh, dass wir Fachleute am Start haben.

Dieser Text erscheint zum 70-jährigen Bestehen des Tagesspiegels. Lesen Sie weitere Beiträge zum Geburtstag auf unserer Themenseite.

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