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1970. 27. September. Aus Anlass des 25-jährigen Jubiläums sendet der Rias in seiner "Rundschau am Mittag" live aus der Redaktion des Tagesspiegels und der Setzerei der Mercator-Druckerei. Interviewt wird der legendäre Chef vom Dienst, Bruno Apitzsch, vorne rechts steht Filmredakteur Volker Baer.

© Schirmer

70 Jahre Tagesspiegel - unsere Zeitung: Vom Ticker zu Twitter

Nachrichten im Sekundentakt, Verbreitung per Mausklick: Zeitungmachen hat sich seit Bleisatzzeiten radikal verändert.

Die bleierne Zeit war wohl eher die lustige Epoche im Evolutionsdrama des Zeitungsmachens. Zumindest bekommt man diesen Eindruck, wenn man heute Fritz Schanninger fragt. Der hatte 1978 an der Potsdamer Straße in der Mercator-Druckerei angeheuert, wo „Der Abend“ und der Tagesspiegel aus der Presse kamen. Damals blickte er, 25-jährig, schon auf diverse Setzerstationen zurück. Hier aber wurde ihm klar, dass sein neuer Job für ihn so spannend war wie nichts zuvor: „Das isses! Zeitungsdruck! Und wie zu Gutenbergs Zeiten!“.

Matritzen nebeneinander, Zeile für Zeile mit Blei ausgießen

In der großen Halle roch es nach Benzin und Farbe, es lärmten die Maschinen, an denen Setzer eine Tastatur bedienten: Auf Tastendruck purzelten da, ausgehend von Schreibmaschinenmanuskripten der Redaktion, Matritzen nebeneinander, bis eine Zeile voll war, wurden dann Zeile für Zeile mit Blei ausgegossen und dann in einem Seitenschiff von Metteuren wie Schanninger zu zwei- und dreispaltigen Artikeln umbrochen, in Anwesenheit eines wachsamen Redakteurs. Überschriften setzte man aus Bleilettern per Hand, Riesenlettern waren sogar aus Holz oder Plastik. Aus der spiegelverkehrten Seite wurde dann in mehreren Arbeitsgängen eine Druckmatritze erstellt, auf der es inmitten der Bleiwüste auch wenige kleine Fotos gab: maximal eines pro Seite, natürlich alles schwarz-weiß.

Einmal, erinnert sich Schanninger, experimentierten sie Weihnachten beim „Abend“ sogar mit grüner Duftfarbe. „Das hat vielleicht gerochen!“ Der Metteur von damals gestaltet heute als Layouter die Seiten am Computer. Wenn Fritz Schanninger die Prozedur von damals mit den Bedingungen von heute vergleicht, wo ein Redakteur von der Produktion der Zeitung eigentlich gar nichts mehr mitbekommt, schwärmt er ein bisschen: Damals, als Redaktions-, Satz- und Rotationsort sich noch an einer Adresse befanden, sei es aufregender zugegangen, haptischer und sinnlicher. Obwohl alle die Schicht hindurch stehen mussten, waren sie stolz, am gemeinsamen Produkt zu arbeiten. Das lag auch an der engen Kooperation mit den Redakteurskollegen. Das Personal war in diesen Jahren noch nicht so knapp, das Fehlerrisiko nicht ganz so hoch wie heute, wo ein falscher Klick einen unfertigen, unredigierten oder unverschämten Text in die Welt schicken kann.

2015. Blick in den Newsroom des Tagesspiegels. Redakteur Michael Schmidt und die Chefredaktion (Stephan-Andreas Casdorff (mitte) Arno Makowsky (l.) und Lorenz Maroldt ) arbeiten an der Schlagzeile des nächsten Tages.
2015. Blick in den Newsroom des Tagesspiegels. Redakteur Michael Schmidt und die Chefredaktion (Stephan-Andreas Casdorff (mitte) Arno Makowsky (l.) und Lorenz Maroldt ) arbeiten an der Schlagzeile des nächsten Tages.

© Kai-Uwe Heinrich

Damals wurde schon mal gefeiert, getrunken in der lauten Halle, weil Bleiluft die Kehle ausdörrt. Bei den Setzern unterschied man die Jägermeister- von der Stonsdorfer-Schicht, in der Kantine floss Fassbier. Und natürlich wurde überall geraucht. Gundomar Gurung, der seit 1980 zu dem elfköpfigen Trupp der Büroboten im Tagesspiegel-Gebäude gehört, weiß genau, wie damals die Haus-Kommunikation funktionierte. Morgens trugen die Boten West- und Ostzeitungen in Umlaufmappen zu den Redaktionen (weil der Eigentümer an Abos sparte). Sie verteilten die Post im Haus, vor allem aber alle halbe Stunde Agenturmeldungen und Manuskripte, die im Fernschreiberraum eingelaufen waren: Die hatte zuvor der Chef vom Dienst (CvD) kopiert und auf Mappen für die Redaktionen verteilt, wo die ersten Redakteure gegen 13 Uhr eintrafen. Dort fanden sie die Mappen in Eingangskörben, aus dem Ausgangskorb fischten die Boten Post und später am Tag Manuskripte für die Setzerei. Fertige Druckfahnen waren in die Korrektur zu bringen und wieder zurück.

Auf grauem Papier mit mechanischen Schreibmaschinen

Außerdem hatte das Botenbataillon auf ein Bord mit 30 Lämpchen zu achten: Leuchtete bei Redaktionsschluss um 21 Uhr eines davon auf, musste der spät beendete Text des knopfdrückenden Schreibers besonders flugs abgeholt und zur Setzerei transportiert werden oder benötigtes Archivmaterial flatterte auf den Schreibtisch des Spätredakteurs. Und es gab eine Telefonzentrale, die Gespräche nach draußen per Stöpselung vermittelte, wobei Privatgespräche in ein Heft eingetragen und monatlich abgerechnet wurden. Das Mithören war kein Problem. Wartete ein Redakteur auf den Rückruf eines Interviewpartners, fiel das Mittagessen aus – Rufumleitungen aufs Handy, Mailboxnachrichten oder E-Mails gab es nicht.

Da half nur: warten. Ihre Texte tippten die Journalisten auf grauem Papier mit mechanischen Schreibmaschinen, meist waren das kürzere Stücke, nachträgliche Änderungen waren schwierig. Wenn Texte zu lang geraten waren, wurde in der Setzerei schon einmal bei dem ein oder anderen von unten weggekürzt.

Tatsächlich starteten erste Neuerungen ziemlich spät, sodass manche ausrangierte Maschine sofort einen Platz im Deutschen Technikmuseum fand. 1983 endete die bleierne Zeit an der Potsdamer Straße. In vielen Ressorts stand noch lange ein singulärer grün flimmernder Computer, dem sich die Redakteure mit furchtsamen Blicken für einen einzigen Vorgang näherten: um Artikelnamen anzumelden. Die Namen wurden jeweils auf das Schreibmaschinenmanuskript notiert, das Boten den Damen der Texterfassung überbrachten, die den Artikel nun digitalisierten. Von unterwegs gaben Korrespondenten Texte per Telefon durch, die so ebenfalls im Computer erfasst wurden. Dann belichtete man den Artikel auf Fotopapierbogen, die Metteure auf einer Seite mit Wachs aufklebten.

Das Redaktionssystem Atex als Innovationsschub in den 1990er Jahren

Den Boten machte für einige Jahre ein Rohrpostsystem Konkurrenz, das aber oft defekt war und mit der Computervernetzung des Hauses an Bedeutung verlor. In den 1990er Jahren folgte als nächster Innovationsschub das Redaktionssystem Atex, für das die Redakteure, mit Typometer und Tipp-Ex bewaffnet, zunächst noch selbst Layouts zeichnen durften. Systemabstürze kamen häufiger vor, dann war der Text danach verschwunden. Also noch einmal von vorn. Gut, das passiert heute auch noch ab und zu, und der Ärger ist groß, wenn der Redakteur vergessen hat, das Geschriebene abzuspeichern.

Dennoch wirkt die Herstellung der Zeitung im Vergleich zur analogen Epoche vor mehr als 30 Jahren wie eine Science-Fiction-Fabrik. Das Verlagshaus am Askanischen Platz hat keine eigene Druckerei mehr, schon lange vor dem Umzug wurde die Produktion ausgelagert an die Axel-Springer-Druckerei in Spandau. Jeder Redakteur schreibt direkt auf die Seite, das geht sogar, wenn er beispielsweise im Fußballstadion in Rio sitzt oder beim G-20-Gipfel in Brisbane. Mit einem Klick kann jeder Redakteur eine Seite zur Belichtung freigeben.

In der Herstellung wird die fertige Seite kontrolliert und per Datenleitung nach Spandau übertragen. Dort werden die Seiten automatisch auf Druckplatten belichtet. Der komplette Weg von der Freigabe durch die Redaktion bis zur fertigen Druckplatte dauert kaum noch eine halbe Stunde. Gleichzeitig müssen Redakteure viel mehr Nachrichten auf verschiedenen Kanälen verfolgen. Die Meldungen laufen sekündlich im System ein. Es gilt nicht nur, diese im Blick zu behalten, sondern auch die Entwicklungen auf den 24-Stunden-Nachrichtensendern auf den Fernsehern im Newsroom, Twittermeldungen regelmäßig zu scannen und darauf zu achten, wie Leser Texte bei Facebook kommentieren.

Online gibt es keinen Redaktionsschluss

Ein Analysetool zeigt minutengenau, welcher Text gerade online von wie vielen Menschen gelesen wird. Bei der ganzen Informationsflut darf nach wie vor der Redaktionsschluss der Printausgabe nicht aus den Augen verloren werden. Online gibt es natürlich keinen Redaktionsschluss, für die Homepage kommt der erste Mitarbeiter um fünf Uhr morgens, liest den Newsletter „Checkpoint“ Korrektur, den Chefredakteur Lorenz Maroldt häufig bis wenige Minuten vorher verfasst hat. Mit einem Knopfdruck haben mehr als 90.000 Abonnenten ihn Sekunden später auf ihrem Computer oder Smartphone.

Der letzte Mitarbeiter verlässt das Haus gegen Mitternacht, es wird sicher nicht mehr lange dauern, bis auch die Nacht durchgearbeitet wird. Auch heute wird noch gern gefeiert beim Tagesspiegel – doch erst nach Feierabend. Alkohol wurde wie Zigaretten aus dem Redaktionsalltag verbannt. Nur der Duft verrät, dass sich manch einer hinter der verschlossenen Tür seines Einzelbüros ab und zu mal eine gönnt. Heute gehört der ehemalige Bote Gundomar Gurung zur Empfangscrew am Askanischen Platz. Post verteilt er immer noch, nur keine Agenturmeldungen mehr. Fritz Schanninger hilft heute den Redakteuren, aus der neuen Technik das Beste herauszuholen. Ein Handy, sagt er grinsend, habe er aber immer noch nicht.

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