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Alfred Grosser über Freiheit: Erkenne dich im anderen

Freiheit ist Autonomie und Aufklärung, ohne die eigenen Wurzeln zu verleugnen. Am Anfang steht der Verzicht auf Rache. Nur so gelingt Versöhnung, individuell und zwischen den Völkern.

Die Freiheit der Jahre 1943/44 in Marseille war für mich ständig von der Furcht begleitet, sie zu verlieren, wäre ich entdeckt, verhaftet, gefoltert, deportiert worden. „Zur Freiheit, zur Freiheit!“, heißt es in diesem Sinn in Beethovens „Fidelio“. Auch heute würde ich um meine Freiheit bangen, wäre ich ein chinesischer oder russischer Journalist. Am Rande bemerkt: Es geht nicht um schrankenlose Freiheit, die alles erlaubt.

Die Freiheit, die ich meine, richtet sich immer an zwei: an mich und den Anderen. In erster Linie geht es nur um meine eigene Freiheit. Sie ist jeden Tag zu erobern oder wenigstens anzustreben. Um meine Autonomie zu behaupten, muss ich Distanz herstellen zu den Verbindlichkeiten und Zugehörigkeiten, die mir durch Erziehung und Umwelt auferlegt wurden. Ich muss sie kritisch hinterfragen, um zu erfahren, ob sie mich freiheitsberaubend gewissermaßen entmündigt haben oder ob ich mich wirklich mit ihnen identifiziere. Dazu gehört, mit den Augen der Anderen zu sehen, um den eigenen freien Willen zu erkennen.

Gerade weil ich ein ganzer Franzose geworden bin, habe ich die durch Franzosen verschuldete Tortur im Algerien-Krieg schärfer in Wort und Schrift bekämpft als das im Namen anderer Nationen verantwortete Leid. Gerade wegen meiner jüdischen Großeltern und Eltern, meiner jüdischen Prägung habe ich Israels Verhalten gegenüber den Palästinensern immer härter verurteilt als das menschenverachtende Verhalten anderer Staaten. Israel gehört zu unserer westlichen Welt wie die barbarischen Todesurteile in Texas, die mich aber mangels des Gefühls der Zugehörigkeit weniger betreffen.

Das zweite Ziel der Freiheit ist, dem Anderen durch Aufklärung zu mehr Freiheit zu verhelfen. Meine französisch-deutsche, meine atheistisch-christliche Arbeit hat nie die so viel beschworene Versöhnung zum Ziel gehabt, nie die stets verkündete Freundschaft, sondern die warme Aufklärung, die das Bild des Anderen wirklichkeitsnäher macht, die sein Selbstbild durch den Vergleich verändert. Mein Losungswort für alle Pädagogen, Eltern, Lehrer und auch Journalisten ist seit vielen Jahrzehnten: Libérer sans désinsérer, befreien, ohne zu entwurzeln, ohne die Zugehörigkeiten zu leugnen.

Durch Selbstbefreiung mehr Mensch werden

Durch Wissen und Selbstbetrachtung die innere Freiheit erreichen: Ist das nicht ein menschliches Ziel, für sich und für die Anderen? Die Selbstbefreiung ist in der Tat der Weg, um mehr Mensch zu werden. Franz Kafkas furchtbare Erzählung, „Die Verwandlung“, zeigt, wie aus einem Menschen ein Käfer wird, den man mit dem Besen wegfegt. Umgekehrt heißt es, durch mehr Bewusstsein mehr Mensch zu werden. In der Zauberflöte sagt Sarastro (etwas heuchlerisch): „Er ist mehr als Prinz. Er ist Mensch.“ – „Nun siehst du aus wie ein Mensch“, heißt es am Schluss von Goethes „Wilhelm Meister“. Jedes Jahr wählt die liberale jüdische Gemeinde von Brüssel „Le Mensch de l’année“, den Menschen des Jahres.

Die erste notwendige Selbstüberwindung auf dem Weg zum Menschsein ist die Ablehnung der Rache. Wieder Sarastro: „In diesen heiligen Hallen kennt man die Rache nicht.“ Keins der schönsten Vorbilder ist hier ein christliches. Lessings Nathan ist Jude, Thoas, der König in Goethes „Iphigenie auf Tauris“ ist ein „Barbar“. Der Sultan in der „Entführung aus dem Serail“ ist Moslem. Man könnte den Kaiser Augustus hinzufügen, der im „Cinna“ von Corneille am Schluss sagt: „Je suis maître de moi comme de l’Univers. Je veux l’être.“ Ich bin Herr über mich wie über die Welt. Ich will es sein.

Auf dass der Andere sei und anders sei

Darf ich mich selbst ganz bescheiden in diese Reihe einfügen? Im August 1944 erfuhr ich durch die BBC, dass die älteren Insassen des KZ Theresienstadt nach Auschwitz abtransportiert worden waren. Darunter die Schwester meines Vaters und ihr Ehemann, Tante Ida und Onkel Kurt. Am nächsten Morgen war ich sicher, endgültig sicher, dass es keine Kollektivschuld gibt, dass man zwar die Verbrecher bestrafen, aber nie Rachegefühle gegen eine menschliche Gruppe hegen sollte.

Jeder, der versucht, Anderen zu mehr innerer Freiheit zu verhelfen, sollte die Losung des mir befreundeten Jesuiten François Varillon berücksichtigen; „Que l’autre soit et qu’il soit autre“ – auf dass der Andere sei und anders sei. Wenn mein Einfluss ihn freier gemacht hat und er diese Freiheit nutzt, um in der allumfassenden Liebe Gottes zu leben (nicht mehr in Furcht vor der Strafe eines zürnenden Gottes), so soll ich das gutheißen. Ebenso wie der inzwischen verstorbene Jesuit seiner Maxime entsprechend meinen atheistischen Humanismus gutgeheißen hätte.

Alfred Grosser ist Publizist und Politikwissenschaftler. Seit Jahrzehnten begleitet der 90-Jährige die deutsch-französischen Beziehungen.

Dieser Text erscheint zum 70-jährigen Bestehen des Tagesspiegels. Lesen Sie weitere Beiträge zum Geburtstag auf unserer Themenseite.

Alfred Grosser

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