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Workshop vor buntem Hintergrund. Das Programm „Medienvielfalt, anders“ der Böll-Stiftung fördert junge Migrantinnen und Migranten, die journalistisch arbeiten möchten. Der Tagesspiegel ist Medienpartner und hat die Stipendiatinnen und andere Nachwuchsjournalistinnen zum Seminar eingeladen.

© Mike Wolff

Böll-Stipendiaten über Freiheit: "Ich musste nie für meine Freiheit kämpfen"

Studierende mit Migrationshintergrund haben anlässlich des 70. Tagesspiegel-Geburtstags aufgeschrieben, was Freiheit für sie bedeutet.

Ich werde nach Amsterdam ziehen. Wie viele junge Studierende werde ich für ein Semester über das Erasmus-Austauschprogramm in einem anderen europäischen Land studieren. Freunde von mir werden ihr temporäres Zuhause in Paris, Edinburgh, London, Madrid, Prag und Warschau finden. Für unsere Generation ist es eine Selbstverständlichkeit, nationale Grenzen Europas ohne Weiteres zu überqueren. Wir sind mit der Europäischen Union und ohne Grenzen aufgewachsen.

Doch in Europa kehren nun die Grenzkontrollen zurück. Rechtspopulisten werden immer stärker und treiben Regierungen vor sich her; die Finanzkrise, die hohe Jugendarbeitslosigkeit in Südeuropa lassen Staaten wieder verstärkt in nationalstaatlichen Grenzen denken; die Flüchtlingsfrage sorgt für weiteren Nationalismus in der Union. Frieden, Sicherheit, Solidarität und Freiheit: Das sind die Elemente der Europäischen Union, die der Vision, die europäischen Völker nach zwei Weltkriegen zusammenrücken zu lassen, zugrunde liegen. Genau diese Errungenschaften scheinen heute zu verblassen, überschattet von Nationalinteressen und Abgrenzdenken. Der Freiheitsgedanke der Europäischen Union wurde in meiner Generation zur Lebenswirklichkeit. Meine Generation hat keinen Weltkrieg erfahren und musste kein in Ost und West geteiltes Europa erleben. Wir denken jenseits nationalstaatlicher Grenzen, wir sind mobil im Kopf und in unserem Denken.

"Gerade wir Jungen müssen die Freiheit verteidigen"

Wir sind mit einem zusammengerückten Europa groß geworden. Unsere Freiheiten nehmen wir allerdings viel zu oft als eine unveränderliche Gegebenheit hin. Eine Freundin aus der Ukraine hat mir vor Kurzem gesagt: „Ihr alle redet immer über Freiheit, aber ihr habt euch schon so an eure Freiheit gewöhnt, dass ihr gar nicht mehr wisst, was sie eigentlich ist.“ Ich selber musste tatsächlich nie für meine Freiheit kämpfen. Darüber hinaus repräsentiere ich wahrscheinlich als junge Studentin, die mit dem Erasmusprogramm nach Amsterdam geht, schon zuvor im Ausland gelebt hat und höchstwahrscheinlich auch in Zukunft verschiedene Länder ihr temporäres Zuhause nennen wird, lediglich einen kleinen Prozentsatz der europäischen Bevölkerung.

Ein sich auflösendes Wir-Gefühl wird uns Europäer auf lange Zeit schwächen, Vorurteile aufleben lassen und nationales Denken befördern. Deshalb erachte ich es als wichtig, dass gerade wir jungen Menschen, denen die Freiheit auf einem Silbertablett serviert wurde, diese verteidigen und dem derzeitig verstärkten Nationaldenken entschieden entgegentreten.

Die gemeinsame Erfahrung eines zusammengerückten Europas verleiht uns die Stärke, miteinander und nicht gegeneinander zu arbeiten. Wenn es um die Frage der Zukunft Europas und unserer Freiheit geht, werden wir daher geschlossen für sie einstehen. Wir kennen es schließlich gar nicht anders. Rahel Freist-Held

Kein Name, kein Alter, kein Geschlecht. Nur eine Nummer

Workshop vor buntem Hintergrund. Das Programm „Medienvielfalt, anders“ der Böll-Stiftung fördert junge Migrantinnen und Migranten, die journalistisch arbeiten möchten. Der Tagesspiegel ist Medienpartner und hat die Stipendiatinnen und andere Nachwuchsjournalistinnen zum Seminar eingeladen.
Workshop vor buntem Hintergrund. Das Programm „Medienvielfalt, anders“ der Böll-Stiftung fördert junge Migrantinnen und Migranten, die journalistisch arbeiten möchten. Der Tagesspiegel ist Medienpartner und hat die Stipendiatinnen und andere Nachwuchsjournalistinnen zum Seminar eingeladen.

© Mike Wolff

Ich bin Nummer HCF68. Unruhig schaue ich mich um, alle anderen scheinen nicht weniger nervös als ich. Auf dem Tisch liegt bereits das Prüfungsheft. Mein Nachbar nickt mir ermunternd zu. Besser geht es mir nicht. Die Prüferin fordert uns auf, unsere individuelle Kandidatennummer auf das Heft zu schreiben. Sowie ich die Buchstaben und Ziffern in das Feld eintrage, beruhigt sich mein Puls. Zufrieden schaue ich auf das Blatt. Ich bin Nummer HCF68. Für einen Moment fühle ich mich wieder sicher und frei. Das Studium an der britischen Universität schenkt mir eine zuvor unbekannte Freiheit.

Das Format der anonymen Bewertung von Prüfungsleistungen ermöglicht es mir, frei zu sein. Nämlich frei von Vorurteilen, Erwartungen und Ängsten. Die Kandidatennummer gibt mir die Chance, mich jedes Mal aufs Neue zu beweisen. Das deutsche Bundesrecht enthält für schriftliche Hochschulprüfungen keine Vorgaben dazu, inwieweit Prüflinge zur Bewertung anonym bleiben können. Anders als in Großbritannien wird an deutschen Universitäten die Anonymität mehrheitlich nicht gewährleistet. Studierende vermerken auf Prüfungsbögen ihren Namen und geben damit oft schon Informationen preis, die den Prüfer unterbewusst beeinflussen können.

Das beweist eine US-Studie. Mehr als 6 500 E-Mails wurden an Professoren an 259 Universitäten geschickt. Inhaltlich waren diese identisch. Allein der Name des fiktiven Absenders variierte: Nachrichten wurden etwa von Lamar Washington, Juanita Martinez oder Raj Singh verschickt – Namen, die überwiegend mit bestimmten ethnischen Gruppen assoziiert werden. Insgesamt erhielten weiße, männliche Studenten wesentlich mehr positive Rückmeldungen als weibliche, schwarze, hispanische, indische und chinesische Absender – unabhängig von Geschlecht und ethnischer Herkunft der Professoren.

Die Uni in England bewertet anonym

Als Tochter von vietnamesischen Gastarbeitern in Berlin geboren, fühlte ich mich während meiner Schulzeit oft nur bedingt wahrgenommen. Ich fürchtete, dass man mich vor allem auf meine ethnische Herkunft reduzierte. Schnell rechnen könne ich, weil ich Asiatin bin. Kunst liege mir auch, weil Mädchen ohnehin kreativer seien als Jungen. Ich fühlte mich unerkannt als Individuum und gefangen in einer von Stereotypen behafteten Hülle. Selten fühlte ich mich frei, stattdessen aber wie ein Prototyp des vietnamesischen Mädchens.

Sicher erkenne ich den Einfluss meiner Herkunft und meines Geschlechtes auf meine Persönlichkeit. Mit Biologie hat das jedoch nichts zu tun. Nicht etwa die Gene meiner vietnamesischen Vorfahren verliehen mir die Gabe, gut mit mathematischen Konzepten umgehen zu können. Meine Stärken und Schwächen entwickelten sich vielmehr als Folge klischeebehafteter Erwartungen.

Nach dem Abitur bewarb ich mich um einen Studienplatz in Großbritannien. Nun lerne ich es zu schätzen, an einer Universität zu studieren, welche strikt anonym bewertet. Kein Name, kein Alter, kein Geschlecht. Nur eine Nummer.

Während der Prüfung kommt die Aufregung zurück. Nervös bin ich aber nur, weil ich mich frage, ob ich gut gelernt habe. Darüber, ob meine Klausur anders gelesen wird, weil ich vietnamesischer Herkunft, weiblich oder nicht Englisch-muttersprachlich bin, mache ich mir keine Gedanken. Solange Stereotypen und Vorurteile in unseren Köpfen präsent sind, gibt mir die Kandidatennummer meine Freiheit, als Individuum anerkannt zu werden. Denn hinter den fünf Zeichen kann sich alles und jeder verbergen. Ich bin Nummer HCF68. Und damit fühle ich mich frei. Duyen Tran

Je weniger Freiheit man hat, desto wertvoller wird sie

Workshop vor buntem Hintergrund. Das Programm „Medienvielfalt, anders“ der Böll-Stiftung fördert junge Migrantinnen und Migranten, die journalistisch arbeiten möchten. Der Tagesspiegel ist Medienpartner und hat die Stipendiatinnen und andere Nachwuchsjournalistinnen zum Seminar eingeladen.
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© Mike Wolff

Wenn ihr in fünf Minuten nicht verschwunden seid, rufe ich die Polizei!“ So wurden meine Familie und ich aus einer Flüchtlingsunterkunft in Mazedonien geworfen, weil meine fünfjährige Schwester eine neue Puppe hatte.

Von 1991 bis 1995 war in Bosnien Krieg. Als der Völkermord in meiner Stadt anfing, schrieb mein Vater einen falschen Namen an unsere Wohnungstür. Doch die serbischen Paramilitärs wussten, wo muslimische Familien lebten. Zwei Stunden, nachdem wir unsere Stadt verlassen hatten, sind sie auch zu uns gekommen. Wir sind also nur knapp dem Tod entkommen. Da Männer aus den Flüchtlingsbussen gezogen und erschossen wurden, musste mein Vater in Bosnien bleiben. Als unsere Flucht begann, war ich ein Baby, deshalb musste mich meine Mutter quer durch Europa tragen, zusammen mit unserem einzigen Koffer.

Während wir in Mazedonien waren, verletzte sich meine Schwester und hatte tagelang Schmerzen. Um sie zu trösten, kaufte ihr meine Mutter eine Puppe. Die Eigentümerin der Wohnung, in der wir untergebracht waren, dachte aber, dass Flüchtlinge vom Minimum leben sollen: gerade genug essen, um zu überleben, wohnen, wo auch immer man sie hinsteckt und sich nie beschweren. Die Puppe war für sie ein Zeichen, dass wir zu viel Freiheit hatten. Wir wurden auf die Straße gesetzt.

Später kamen wir mit nur 50 D-Mark in Deutschland an. Obwohl uns viele gutherzige Menschen geholfen haben, merkten wir schnell, dass es auch hier Menschen gab, die uns nicht mehr als das Minimum gönnten. Manche beschwerten sich, dass wir ab und zu frische Brötchen kauften oder dass meine Mutter einmal neue Hausschuhe hatte.

Das Handy ist die einzige Verbindung zur Familie in Syrien

Doch schon als Kind war mir klar, dass wir unter größeren Freiheitsbeschränkungen litten. Ich wusste, dass wir Ausländer sind und dass wir „raus“ sollen, aber ich wusste nicht, warum oder wohin. Manchmal wurden wir vor Menschen mit Glatzen gewarnt, die vor unserem Container rumstanden. Uns wurde geraten, in der Öffentlichkeit nicht miteinander zu reden, damit diese Menschen nicht merken, dass wir keine Deutschen sind.

Wir machten uns Sorgen, wenn sich unsere Familie aus der Kriegszone nicht meldete und noch mehr, wenn sie sich meldeten, immer mit schrecklichen Neuigkeiten über Getötete oder Verwundete. Welche Last Flüchtlinge in ihren Köpfen mit sich herumtragen kann niemand verstehen, wer es nicht selbst durchgemacht hat.

Neulich habe ich zwei Frauen in der U-Bahn über einen Syrer reden hören. Warum er ein Handy habe, wenn er doch Flüchtling ist. Daran, dass das Handy seine einzige Verbindung zu seiner Familie sein könnte, dachten die Frauen nicht. Auch Flüchtlinge möchten leben, nicht nur überleben. Je weniger Freiheit man hat, desto wertvoller wird sie. Wenn man fast keine Freiheit hat, dann kämpft man für jedes noch so kleine Stückchen, das man bekommen kann. Auch deshalb haben Flüchtlinge Handys. Deshalb kämpfen sie für das Recht zu studieren, zu arbeiten oder einfach in Deutschland zu leben. Und deshalb kauft eine alleinerziehende Mutter eine Puppe für ihre Tochter, statt Essen für sich selbst. Melina Borcak

Ein Mensch sein wie jeder andere

Workshop vor buntem Hintergrund. Das Programm „Medienvielfalt, anders“ der Böll-Stiftung fördert junge Migrantinnen und Migranten, die journalistisch arbeiten möchten. Der Tagesspiegel ist Medienpartner und hat die Stipendiatinnen und andere Nachwuchsjournalistinnen zum Seminar eingeladen.
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© Mike Wolff

"Wir Palästinenser haben so ein Sprichwort: Mein Hals ist ständig im Würgegriff der Hand eines anderen.“ Khaled A. sitzt auf einem ausgefransten schwarzen Sofa und raucht. „So fühle ich mich. Damals im Flüchtlingslager in Beirut und jetzt in Deutschland.“ Der 52-jährige Palästinenser wohnt mit seiner Frau und vier Kindern in einer kleinen Wohnung in Nord-Neukölln.

Als ich ihm sage, es solle um Freiheit gehen in unserem Gespräch, runzelt Khaled die Stirn und zieht dann lange an seiner Zigarette. Wie ich das meine, will er wissen.

Khaled ist 1990 mit seiner Familie vor dem libanesischen Bürgerkrieg nach Deutschland geflohen. Mit gefälschten Papieren passierten sie die Grenze und kamen nach Berlin. Was war sein erster Eindruck von Deutschland? „Als ich zum ersten Mal durch die Straßen von Berlin gelaufen bin“, sagt er, „und nirgendwo waren Heckenschützen, kein Häuserkampf, ich musste mich nicht ständig ducken und Angst haben – das war unbeschreiblich.“

Glückslos Deutschland, so schien es. Endlich raus aus dem Krieg und dem Elend des Flüchtlingslagers. Jetzt sollte alles anders werden. Gleich in der ersten Woche in der Stadt machte sich Khaled auf den Weg zum Arbeitsamt. Er hatte eine abgeschlossene Berufsausbildung zum Autoschlosser und wollte sein eigenes, deutsches Geld verdienen. „Ich weiß noch, da saß diese Frau. Sie schaute mich nicht richtig an, als sie mit mir sprach, fragte mich nur, was ich wolle. Ein Formular für die Arbeitserlaubnis, sagte ich. Dann gab sie mir den Zettel mit den Worten: „Sie können das ausfüllen. Ich werde es aber ablehnen. Gerne sogar. Auf Wiedersehen.“ Khaled starrte die Frau ungläubig an. Er versuchte zu verstehen, aber es gelang ihm nicht. Warum durfte er nicht arbeiten, keine Steuern zahlen und seine Familie nicht selbst versorgen?

"Es ist beschämend vom Geld anderer zu leben"

Der Grund ist die deutsche Asylgesetzgebung. Als Bürgerkriegsflüchtling wurde Khaled jahrelang nur „geduldet“, was bedeutet: weder arbeiten noch studieren, nicht mal Berlin durfte er verlassen. Dreizehn Jahre war er zum Nichtstun verdammt. Das Arbeitsverbot, welches de facto für die meisten der etwa 90 000 geduldeten Flüchtlinge gilt, soll 2015 endlich schrittweise aufgehoben werden. Für Khaled kommt das viel zu spät. „Es ist so beschämend vom Geld anderer zu leben.“ Zwischenzeitlich hielt er es nicht mehr aus, sein Kopf war voller Ideen. Kurzerhand eröffnete er mit seiner Schwester einen Blumenladen. Nur einige Tage später ließen die Behörden ihn wieder schließen. Khaled war verzweifelt.

Seine Kinder gingen währenddessen zur Schule, spielten Fußball und fanden schnell Freunde. Berlin wurde zu ihrer Heimat. Nur gab es diese Tage, die das Glück dämpften. Bei Klassenfahrten zum Beispiel. Die Kinder durften nicht mit. Auch Bettelbriefe der Lehrerin bei der Ausländerbehörde halfen nichts. Dann kam der Tag, als sie die Schule fertig hatten. Völlige Leere. Studium nicht erlaubt, Arbeit nicht erlaubt, Verlassen der Stadt nicht erlaubt. Was sollten die Kinder machen? Ihr Vater wurde immer hoffnungsloser.

Was wünscht er sich von Deutschland? Khaled muss nicht lange nachdenken. „Einfach ein Mensch sein wie jeder andere.“ Für ihn, sagt er dann, sei es vermutlich zu spät. Aber er wünsche es sich sehr für seine Kinder. Auf dem Tisch vor ihm steht eine Kanne schwarzen, bitteren Kaffees und ein Teller mit trockenem Obst und Süßigkeiten. Ob er sich jemals wirklich frei gefühlt habe in seinem Leben, frage ich ihn. Er schaut aus dem Fenster und denkt lange nach. Dann sagt er leise: „Nein. Nie.“ Kaja Klapsa

Rahel Freist-Held, Duyen Tran, Melina Borcak, Kaja Klapsa

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