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Tahar Ben Jelloun. Der marokkanische Schriftsteller und Dichter hat zuletzt das Buch „Der Islam, der uns Angst macht“ veröffentlicht.

© picture alliance / dpa

Tahar Ben Jelloun über Freiheit: Errungen im Widerstand

Der europäische Citoyen hat vergessen, dass seine Freiheit erkämpft wurde. Von Tahar Ben Jelloun.

Ich erinnere mich eines Satzes von Jean-Paul Sartre, den man im Philosophie-Unterricht kommentieren musste: „Wir waren niemals so frei wie während der Besatzung.“ Paradox, gewiss, aber die richtige Idee. Die Freiheit hat nur Sinn in dem Kampf gegen die Unterdrückung, gegen die Diktatur, gegen alles, was darauf abzielt zu verhindern, dass man lebt. Wenn alles gut geht, wenn der Frühling ein Synonym ist für Frieden und Heiterkeit, achten wir nicht mehr auf diesen fundamentalen Wert der Freiheit. Tatsächlich wird sie auch so natürlich wie die Luft, die man atmet oder das Licht, das uns der Himmel schickt.

Während der Besatzung Frankreichs war Widerstehen nicht nur der Beweis von Mut, sondern auch von Freiheit, von würdigen und rebellischen Citoyens, die an ihrer Freiheit festhielten, indem sie sich weigerten, sich einer kriminellen Ordnung zu unterwerfen. Die Freiheit war aufseiten der bedrängten, gefolterten, exemplarisch exekutierten Menschen. Sie fand sich nicht im Lager der Unterdrücker.

Freiheit zwischen Fernsehen und Internet

Nelson Mandela hat bewiesen, ein freier Mann zu sein, indem er der Apartheid, der Ungerechtigkeit widerstand. Aus den Tiefen seines Gefängnisses erleuchtete sein Gewissen die Welt und legte Zeugnis eines noblen Widerstandes ab.

Heute hat der europäische Citoyen diesen Begriff des Widerstands vergessen. Er lebt in einer demokratischen Gesellschaft, hat Rechte und in manchen Fällen sogar Privilegien. Er weiß nicht mehr, dass seine Großeltern das soziale System, das es ihm erlaubt, in Frieden zu leben, einst erkämpft haben.

Seine Freiheit besteht heute darin, zwischen Fernsehen und Internet zu wählen, zwischen einer deutschen oder französischen Automarke, zwischen einer Gewerkschaft der Linken oder des Zentrums. Seine Lebensentscheidungen baden in Bequemlichkeit.

Von Zeit zu Zeit – und das seit 15 Jahren – wird seine Sicherheit durch terroristische Akte infrage gestellt, ausgeführt von zornigen Verrückten, die ihre Urteilsfreiheit völlig verloren haben. Aber die Welt von heute leidet. Europa und Nordamerika wissen, dass ihre Freiheit bedroht ist. Sie schützen sich, indem sie ihre Grenzen schließen und in dieser oft irrationalen Reaktion Ungerechtigkeiten begehen. Guantanamo bleibt ein Gefängnis außerhalb des Gesetzes. Obama hatte versprochen, es zu schließen. Er hat es nicht getan.

Werte wie Menschenwürde und Freiheit

Tausende von Migranten, die aus dem Subsahara-Afrika oder aus kriegsgeschüttelten Ländern wie Syrien, Irak oder Libyen kommen, träumen von Europa, gerade weil sich diese Staatengemeinschaft einer großen Freiheit erfreut. Aber dieses Europa versäumt es, eine Einwanderungspolitik zu entwerfen, und reagiert von Fall zu Fall. So viele Männer und Frauen wenden sich an Frankreich, das dafür bekannt ist, „das Land der Menschenrechte“ zu sein, und sind enttäuscht, wenn ihre Asylbegehren zurückgewiesen werden.

Seit dem sogenannten Arabischen Frühling gehen in der arabischen Welt die Menschen auf die Straßen und füllen die Plätze, nicht um Brot und Arbeit zu reklamieren, sondern um zu fordern, dass der Staat Werte wie die Menschenwürde und die Freiheit respektiert. Sie haben keine Angst mehr und sind bereit, für ihre persönliche Würde zu sterben.

Freiheit kennt kein Alter

Das Gleiche geschieht in den von Israel besetzten Gebieten, wo Palästinenser unter einem inoffiziellen Regime leben – um nicht zu sagen Apartheid –, das Bewegungsfreiheit unmöglich macht. Auch das führt dazu, dass im 21. Jahrhundert Völker immer noch kolonisiert, ihre fundamentalen Rechte verneint, verweigert werden.

Die Freiheit ist ein Wert, der kein Alter kennt, der nicht altert, der nicht aus der Mode kommt und der das kostbarste Gut der Menschheit bleibt. Die Freiheit war zu allen Zeiten, von Spartakus bis zum anonymen Palästinenser, der widersteht, von Sokrates bis zu Mohammed Bouazzi, dem Mann, der sich am 17. Oktober 2010 in Tunesien selbst verbrannt hat, der Hebel des Lebens und seiner Würde.

Aus dem Französischen von Rolf Brockschmidt

Dieser Text erscheint zum 70-jährigen Bestehen des Tagesspiegels. Lesen Sie weitere Beiträge zum Geburtstag auf unserer Themenseite.

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